Zurück in die Zukunft - vorwärts in die Vergangenheit?
Man sollte vermuten, daß Menschen wie Theodor Pelster es im Grunde gut meinen mit ihren Vorschlägen. Doch seinem Ansatz wohnt eine fatale Naivität inne. Fatal, weil sie die wahren Gegebenheiten so unglaublich simplifiziert, daß die optierte Methode das genaue Gegenteil des Zieles bewirken würde, auf das eigentlich angepeilt wird. Wie in einigen der letzten Beiträge an dieser Stelle wiederholt erwähnt wurde, wird Sprache zunächst intuitiv angewandt. Das menschliche Gehirn besitzt ein Sprachzentrum, das für die unbewußte Synthese und Analyse sprachlich kodierter Information zuständig ist. Die Sprache, die ein Individuum spricht (also Deutsch, Englisch, Koreanisch, Suaheli usw.) ist aber ganz offensichtlich nicht genetisch bedingt. Ein Mensch lernt die Sprache der Umgebung, in der er aufwächst, in der er lebt. Sprache ist das Produkt eines größeren sozialen Gefüges (eines Sprachvolks) bzw. ihrer Untermengen (Dialektgruppen), die sich auf gewissen Ebenen auch mit anderen Übergruppen überschneiden können (Fachtermini), innerhalb dessen sich semantische Codes, grammatische Traktoren und syntaktische Strukturen herausgebildet haben. Die Maschine, die diese herstellt, ist die Praxis der Kommunikation. Ein kleines Gremium kann eine Sprache nur dann praxistauglich regeln, wenn es den absoluten Grundsatz befolgt, den Gegebenheiten des vorliegenden Zustands zu folgen; jeder normative Versuch ist ein Wagnis und birgt das Risiko der Sprachschädigung. Die Praxis der Kommunikation ergibt sich natürlich bei Menschen auch aus den Gegebenheiten der Signalverarbeitung im menschlichen Gehirn. Ähnlich dem Muskelgewebe findet sich dort die Fähigkeit, sich an oft wiederholende Anforderungen anzupassen. Anfangs noch bewußte Abläufe werden allmählich automatisiert und ins Unterbewußtsein verlagert. So lernt man Fahrradfahren genau wie Klavierspielen und Fremdsprachen. So kann man natürlich auch neue Orthographiekonzepte lernen. Jedoch wird mit jeder Veränderung, wie sie Pelster vorschlägt, wieder neue Anpassung, neuer Lernaufwand fällig werden. Da die Sprache und mit ihr die Rechtschreibung ein komplexes, universelles Instrument ist, das sämtliche konkrete wie geistige Welt zu fassen in der Lage sein sollte, sind den Vereinfachungsbestrebungen natürliche Grenzen gesetzt. Ob diese Grenzen bei Normierungsbestrebungen unbedingt berücksichtigt werden, darf man angesichts der aktuellen Reform zwar schon bezweifeln, jedoch wird jede Änderung des Systems zwangsläufig neue Lernanstrengungen für alle Sprachteilnehmer bedeuten, deren Lebensalter ein wenig über dem geplanten Erneuerungszyklus liegt. Die Komplexität der Materie bringt es mit sich, daß auch die Änderungen umfassend immer nur mit hohen Anstrengungen zu lernen sind (die momentan amtliche Neuregelung der deutschen Rechtschreibung stellt bei alledem ja übrigens noch nicht einmal als Erstlehre eine Erleichterung dar, das ist Pelster wohl auch noch nicht aufgefallen). Unbewußte Abläufe der Sprachformung müssen wieder in die bewußte Sphäre emporgehievt und mühsam durch neue ersetzt werden. Ersetzung der alten Gewöhnung durch neue Gewöhnung der Aufwand ist offensichtlich, doch wo ist der Ertrag? Denn wenn der Überlegene keine Basis mehr für seine Überlegenheit gegenüber dem Unterlegenen haben soll, dann muß die Qualität der Sprache insgesamt herabgesetzt werden, und zwar entlang des Maßstabs, anhand dem der gegenwärtigen Unterschied zwischen beiden festzustellen ist. Das läuft natürlich auf einen Zwang der Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus. Die Unterlegenen werden während dieser Entwicklung aber trotzdem benachteiligt sein, da sie ihr wegen der dauernden Umgewöhnung und des Umlernens nicht so gut folgen können wie die Überlegenen. Die gegenwärtige Überlegenheit geht ja in Zeiten allgemeiner Schulpflicht normalerweise gerade aus einer besseren Lernfähigkeit bezüglich des sprachlichen Systems hervor. Pelsters Pläne würden die von ihm festgestellten gesellschaftlichen Mißstände also noch verschärfen. Wenn anderes als Begabung die Ursache ist, liegen die Probleme nicht im Lernstoff, sondern im Lehrsystem und den realen Begleitumständen. Ein Zyklus einer Normierung, die sich nicht aus Praxis, sondern aus Simplifizierungsideologie nährt, wird zudem die Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener Generationen erschweren, da die Menschen, je älter sie sind, von jeder neuen Umformung verwirrter sein werden. Doch die Verwirrung wird ohnehin darüber hinaus auch allgemeiner Natur sein, denn gerade im Bereich der Rechtschreibung ist das Objekt der Übung ja die alltägliche Lektüre, die sich aus Schrifterzeugnissen zusammensetzt, die aus unterschiedlichen Stufen der Entwicklung stammen (im Idealfall zumindest). Aufgrund der derzeit beobachtbaren Folgen der 1996er Reform läßt sich recht gut abschätzen, was auf die Kulturtechnik der Rechtschreibung zukäme, wenn man ihre Regeln, ihr System, in jedem Jahrzehnt neu ändern würde. Vom Sinn der Rechtschreibung würde nichts übrigbleiben, die Schriftsprache würde starke Abstumpfung des Ausdrucks, der Präzision, ihrer allgemeinen Leistungsfähigkeit erfahren. Solche Ergebnisse pflegt man Kulturverfall zu nennen. Das Mittelalter war in Europa nach den kulturellen Blüten der Antike ein Beispiel für so etwas. Es wäre schön, wenn man Lernanstrengungen lieber in lehrreiche Geschichtsbetrachtungen investieren würde anstatt in sinnlose, ja, sinnwidrige Umbauten des Sprachsystems.
Christian Melsa 22149 Hamburg
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