Von Fluren und Flurschäden
Lieber Herr Volz,
Sie schreiben so friedfertig, daß mir meine unfreundliche Kritik schon wieder leid tut. Bei so viel Fähigkeit zur Erkenntnis von Irrtümern, besteht Anlaß zur Hoffnung, daß wir alle bald zu weiteren Erkenntnissen kommen werden. Zu den Ligaturen nochmals: Mit Platzersparnis oder Umbruchvermeidung haben Ligaturen nichts zu tun, es geht nur um Formales: Der »Schweif« des f oder des langen s hat die Tendenz, über den folgenden Buchstaben hinüberzuragen. Bleisatzlettern hatten unter diesem Schweif in manchen Schriften tatsächlich kein »Fleisch«, d.h. die Schweife ragten frei über den Bleikegel hinaus, was immer wieder zu beschädigten Buchstaben geführt hat (insbesondere bei Kursivschriften, da ragten sie auch nach hinten hinaus!) Da bei ff fi ffi fl usw. bei den folgenden Buchstaben (wegen der Oberlängen) kein Platz für das Drüberragen vorhanden ist, mußten Ligaturen gebildet werden, die die Zeichenverbindung als Gesamtgebilde darstellten. Gute Satzprogramme machen das heute rechnerisch, man nennt das dann Kernel (eine Festlegung der Abstände, die zwischen den unterschiedlichsten Buchstabenverbindungen jeweils gegeben sein müssen, damit ein harmonisches Schriftbild entsteht, aber das gehört nicht mehr hierher.)
Die neuen Worttrennungen, nicht allein bei s-t, sind doch besonders ärgerlich, da sie Wortbestandteile auseinanderreißen (Subs-tanz, Lust-ration und all die bekannten Beispiele, die oft zu erheiternden Ergebnissen führen). Dabei war das nun wirklich nicht schwierig, denn eine einfachere Regel als »st wird nicht getrennt« kann man sich kaum vorstellen, und dabei kann man diese auch noch begründen, falls sie jemandem nicht einleuchten will. Im Englischen gibt es solche befremdlichen Trennungen allerdings auch, ich erinnere mich an den »photog-raver«, der mit einem Raver nichts zu tun hat. Den Engländern scheint diese Schwäche aber bewußt zu sein. So ergeht von englischen Autoren, sofern ich mit ihnen zu tun hatte, immer die Order, auf die erlaubten Trennmöglichkeiten zu verzichten und tunlichst überhaupt nicht zu trennen! Das geht im Englischen einigermaßen, da viele kurze Wörter vorkommen. Aber manchmal geht es nicht anders, und dann ist »photo-graver« sogar falsch, wie man mir beschied.
Wenn es um die reine Schreiberleichterung geht, könnte man ja sagen, daß einfach dann getrennt wird, wenn die Zeile voll ist, egal wo im Wort! Jetzt, wo Einzelbuchstaben sowohl vorne als auch hinten an der Zeile erlaubt sind, könnte man doch diesen Schritt zur konsequenten Schreiberleichterung auch noch gehen. Ein Setzer lernt aber, daß man nach lesefreundlichen und wortästhetischen Gesichtspunkten (was weitgehend dasselbe ist) zu trennen hat: zum Beispiel sollen mindestens drei Buchstaben auf die folgende Zeile kommen, egal, was die Rechtschreibregeln dazu sagen, und man soll keine Wörter unter 5 Buchstaben Länge trennen. Also niemals Kirchengemein-de oder Industriebautei-le oder ei-ne al-te En-te, obwohl das alles »richtig« wäre. Und jetzt gar A-gentur usw. Das ist orthographisch vorgegebene Textverstümmelung, ein reiner Schaden für die Schreib- und Satzkultur und fürs Lesen ärgerlich.
Im Flur finden übrigens oft die intensivsten Gespräche statt, jedenfalls ist das meine Beobachtung. Wenn bei einem Besuch im Wohnzimmer beim besten Willen keine Unterhaltung in Gang kommen mag: kaum geht man auf den Flur, um sich zu verabschieden, geht es los, und jedem fällt noch wahnsinnig viel ein und man findet kein Ende mehr.
Aber Sie sollen ja nicht gehen, sondern hereinkommen.
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Walter Lachenmann
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