Mißverständnisse
Ich hatte schon lange den Eindruck, daß man mit Dir, liebe litebloo, besser über Rechtschreibung als über die Rechtschreibreform sprechen könnte. Denn über die Reform kann man nur sprechen, wenn man sie wirklich kennt, also die 90 Seiten amtliche Regeln (es sind ungefähr 1300 Regeln!) gelesen hat. Das kann und will ich Dir aber nicht zumuten, es ist auch deshalb witzlos, weil die Regeln ja inzwischen inoffiziell schon wieder geändert worden sind. Im September wird der neue Bericht der Kommission fertig sein, über hundert Seiten lang, und er wird wahrscheinlich weitere Änderungen bringen, weil die Reformer längst erkannt haben, daß ihr Werk verfehlt ist. Also wozu überhaupt noch darüber reden?
Was aber die Rechtschreibung selbst betrifft, so bist Du in bester Gesellschaft, wenn Du verlangst, daß Aussprache und Schreibweise möglichst eindeutig zusammenhängen. Das haben fast alle Reformer seit dreihundert Jahren verlangt. (Herr Markner, der hier auch oft sehr gescheite Sachen einträgt, hat dafür einen ziemlich häßlichen Ausdruck: Oralprimaten.) Manche Sprachen kommen diesem Ideal sehr nahe, aber gerade die drei großen Sprachen Westeuropas, also Deutsch, Englisch und Französisch, tun es nicht. Darüber ließe sich natürlich reden.
Der Stand der Erkenntnis ist so, daß man heute einsieht: Der Leser, auf den es doch letztlich ankommt (das siehst Du ja völlig richtig), ist weniger am genauen Wortlaut interessiert als am Sinn eines Textes. In dieser Hinsicht ist aber die deutsche Rechtschreibung ganz hervorragend. Du mußt bedenken, daß man sowieso vieles nicht schreiben kann, was man hört. Als Ausgleich bringt man in der Schrift einiges unter, was man nicht hört. Und so ergibt sich eine ungewöhnlich leserfreundliche Schreibweise. Zum Beispiel die großen Anfangsbuchstaben: man hört sie ja nicht, aber fürs Auge sind sie eine Wohltat, sie beschleunigen das Lesen um ungefähr 3-5 Prozent. Das ist beweisbar und bewiesen. Das heißt, wenn zwei Leute ein Buch von 500 Seiten lesen, der eine in Kleinschreibung, der andere nicht, dann ist der zweite schon fertig, wenn der andere noch 25 Seiten zu lesen hat, also 1 bis 2 Stunden früher. Das Leseleben eines Professors (die leben besonders lang, weil sie nur tun, was ihnen Spaß macht) von 80 Jahren gewinnt glatt 4 Jahre Lesezeit. Ist das nicht phantastisch? Und das ist ja nur ein einziger Punkt, eben die Großschreibung.
Es kann sein, daß dies nur die halbe Wahrheit ist, aber selbst dann wäre es noch bemerkenswert. Ich will nur sagen, daß man vieles bedenken muß. Bist Du denn mit Büchern in der bisherigen Rechtschreibung unzufrieden gewesen, ich meine, als Leserin? Oder hast Du Dir bloß Sorgen darüber gemacht, ob Du selbst diese Schreibweise so gut hinkriegen würdest? Wenn Du Dir meine beiden Tafeln anguckst (ich schicke sie Dir auch gern zu), dann wirst Du vielleicht erkennen, daß der eigentliche Lernstoff so dargestellt werden kann, daß er wirklich keine große Zumutung mehr ist. Den Duden kannst Du vergessen, der hat es unnötig schwer gemacht. Hier in unserer gemütlichen Diskussionsrunde sind wir auf einem anderen Wege, und zwar haben wir durchaus ein Herz für 14jährige Mädchen; das habe ich aber schon mal gesagt.
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Th. Ickler
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