Vergleiche mit Diktaturen sind insofern passend, als daß auch dort oft eine Doktrin zum Dogma erhoben wird, das außerhalb jeder Diskussion zu stehen hat. Was ist das für eine Demokratie, in der nur bestimmte hegemonial Privilegierte entscheiden, was das Volk entscheiden darf? Mehr noch, bei uns werden ja sogar klipp und klar erfolgte Volksentscheide von den real Mächtigen offen mißachtet. Wo ist da der effektive Unterschied zu einer Adelsherrschaft? Man mag vielleicht dazu neigen, diese Sachen herunterzuspielen, weil sie aus mangelnder geschichtlicher Distanz nicht so dramatisch erscheinen wie andere Ereignisse der Vergangenheit, die sich nach heutigen Sichtvermögen teilweise in den Kontext einer üblen Entwicklung einfügen. Man sollte daraus lernen, daß man nicht erst dann protestieren sollte, wenn es eigentlich schon zu spät dafür ist. Hitler hat das Dritte Reich nicht im Alleingang verbrochen. Ohne millionenfache Obrigkeitsgläubigkeit, ohne die hinreichende Menge eifriger Anpasser wäre das alles unmöglich gewesen. Das sind die eigentlichen Faktoren, die dämonische Figuren wie Hitler oder Stalin überhaupt erst zu solch großer Schädlichkeit befähigt haben. Ein ähnlicher Ungeist, das gedankenlose Mitmachen, das bereitwillige Einschwenken in künstlich erzeugte Scheintrends, eine ausgetrickste Demokratie, Doppelmoral hintergangener Gemeinwerte und Staatsgrundsätze, gleichgeschaltete Presse mit gewissen Tabuthemen, irreführende Propaganda, es läßt sich gegenwärtig wieder bei der Rechtschreibreform beobachten (natürlich nicht nur dort, dort aber in ganz besonderer Ausprägung). Selbstverständlich handelt es sich hier um ein vergleichsweise harmloses Objekt, wenn man Völkermord dagegenhält. Allerdings darf die deutsche Vergangenheit auch nicht dazu führen, alles, was weniger verbrecherisch als der Holocaust erscheint (also eigentlich ohnehin alles), als absolut harmlos und doch eigentlich gar nicht so schlimm wahrzunehmen. Wenn die Staatsmacht derart dickköpfig gegen die Volksmehrheit an der Schriftsprachnorm herumändern will und das auch noch so miserable, sprachschädigende Ergebnisse zeitigt, die Kontinuität der Sprachentwicklung vorsätzlich zerstört wird, Prinzipien der Bildung auf äußerst fragwürdige Weise entstellt werden, die ganze Veranstaltung nur Ärger und so gut wie keinen Nutzen bringt, dann liegen wohl genügend Gründe vor, dagegen zu protestieren.
Die Rechtschreibreform sticht allerdings besonders dadurch hervor, daß sie nun wirklich komplett entbehrlich gewesen wäre. Niemand hätte sie vermißt. Vielleicht hätte jemand eine Reform vermißt, aber ganz bestimmt nicht diese, mit der ja sogar die Reformer selbst nicht wirklich zufrieden sind. Während es einige winzige Punkte gibt, die an der Reform zumindest nicht allzusehr stören (z.B. die st-Trennung), ist sie in der Gesamtheit doch eine einzige Verrennung. Man sollte meinen, daß so ein unbrauchbarer Kram auch nicht den Weg in die Praxis finden dürfte, doch der Weg in die Praxis führte dann ja, wie man sieht, über Zwangskanäle. An den Schulen schreibt man nicht aus freien Stücken die neue Rechtschreibung, weil man sich etwa in neutralem Vergleich für die bessere Lösung entschieden hätte, in der Presse genausowenig. Immer wurde und wird von oben Druck ausgeübt, der die freie Entscheidung des Individuums unterdrückt. Beide Stellen sind die strategisch wichtigsten Punkte zur orthographischen Zwangsumerziehung einer Sprachgemeinschaft. Und ebenso gibt es in beiden Fällen für den letztendlich Betroffenen keine Alternative: Ein Schüler bzw. dessen Eltern können nicht einfach eine andere Schule aussuchen, an der die aus guten Gründen favorisierte Rechtschreibung unterrichtet wird. Und als Tageszeitungsleser bleibt einem derzeit eigentlich nur die Frankfurter Allgemeine, doch sofern man sich ausgewogen informieren möchte, würde man ja auch gerne andere Zeitungen in der gewünschten Form lesen können. Eine Pressepublikation ist leider nur entweder in der normalen oder meistens in irgendeiner reformorientierten Abweichungsrechtschreibung erhältlich. Wenn man am Inhalt einer bestimmten Schrift interessiert ist, hat man als Leser keine Wahl. Die wahren Wünsche der Leser ignorieren die Zeitungen dabei einfach die oligopolistische Struktur der Massenmedien erlaubt das; sie ließen sich etwa durch die Leserabstimmung letztes Jahr, die nun wirklich sehr eindeutig ausfiel, nicht im geringsten beeindrucken (die gesammelten Einsendungen von Lesern jeder einzelnen einbezogenen Tageszeitung sprachen sich überall zu mehr als 95% für eine Rücknahme der Reform aus). Ein Boykott könnte auf Dauer nur funktionieren, wenn es überall ausreichend Alternativen gäbe. Interessanterweise hat aber fast die gesamte Presse zeitgleich umgestellt, forciert durch die Umstellungen der Agenturen. Und noch interessanter mag sein, daß dabei nicht einmal konsequent die an den Schulen eingeführte Reform nachvollzogen wurde, die schließlich die einzige Ursache aller Umstellungsbemühungen war, sondern es offenbar allein darauf ankam, überhaupt halt irgendwas zu ändern. Ein Modernitätsaktionismus, dessen Psychologie sich auch in Milleniumswahn, Börsenhype und ähnlichem wiedererkennen läßt. Von Rationalität ist das alles weit entfernt. Deswegen gleicht das ganze Schauspiel ja auch so sehr den Geschichten der Schildbürger oder dem Märchen vom Kaiser mit den neuen Kleidern. Es ist aber einfach deprimierend, wieviel Unweisheit und geistloser Opportunismus sich oft ausgerechnet an Stätten der größten Macht versammelt finden.
– geändert durch Christian Melsa am 02.09.2001, 18:30 –
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