Verwässerung... nein, Unterspülung der Demokratie
Uwe, Du schreibst: Die Regierung (also auch der einzelne Minister) wird vom Parlament gewählt und ist somit ebenfalls demokratisch legitimiert, um Angelegenheiten im Namen des Volkes zu regeln. Ein Erlass zur Einführung neuer Rechtschreibregeln an Schulen kann hiervon nicht ausgenommen sein. Meine Antwort lautet: Doch! Warum, das werde ich jetzt noch einmal haargenau begründen.
Du gibst zwar kund, nicht mehr weiter aufs Stichwort Demokratie eingehen zu wollen, aber da Du selber in dem betreffenden Beitrag genau dieses Thema ansprichst, wirst Du nicht umhin kommen, dennoch zu akzeptieren, wenn ich darauf eingehe. Es sei denn, Du weigerst Dich einfach, an dieser Stelle folgerichtig weiterzudenken und gibst Dich damit zufrieden, daher mit billigen Ausweichmanövern zu operieren. Mir scheint auch immer wieder, Dir sind einige für die Beurteilung sehr wichtige Tatsachen entweder nicht bekannt oder nicht bewußt. Daher mein Aufklärungsbedürfnis.
Noch einmal schnell vorausgeschickt: Wie bereits erwähnt, ist die Staatsmacht in diesem Land kraft Verfassung das Volk. Und zwar das gesamte Volk, nicht etwa die Politiker o.ä. Um zu handeln, müssen Entscheidungen getroffen werden. Das wird durch die Volksvertreter organisiert, die im Parlament erörtern, was anliegt, und dann per Mehrheitsbeschluß Handlungsanweisungen installieren. Das ist im normalen Betrieb praktikabler (weil weniger umständlich), als jedesmal das ganze Volk direkt entscheiden zu lassen.
Demokratisch legitime Entscheidungen können nur solche sein, deren Inhalt den Willen des Volkes repräsentiert. Ganz klar, sonst würde es sich um keine Demokratie handeln. Eine Binsenweisheit. Kann bei den für die Rechtschreibreform Verantwortlichen eine hinreichende Repräsentativität, allein von ihrer Position innerhalb der gegebenen Entscheidungsfindungsstruktur her, als auch nur annähernd gesichert gelten? Werfen wir einmal einen Blick darauf, durch wieviele Schichten (grob zusammengefaßt) der Volkswille dringen müßte, um dort anzukommen:
1. Der einzelne Bürger hat normalerweise alle 4 Jahre (pro Parlament) die Wahl. Er kann bei diesem Akt allerdings nicht seinen tatsächlichen Willen differenziert artikulieren, sondern muß sich für eine seinen Wünschen möglichst nahe Partei entscheiden. Sehr wahrscheinlich existiert eine Partei, die seinen Vorstellungen genau entspricht, jedoch überhaupt nicht. Einer Partei (bzw. bei der Bundestagswahl ihrem Ortskandidaten) kann er nur entweder 100% oder 0% seiner Stimme geben. Ob die von ihr im Wahlkampf angekündigten Maßnahmen in die Tat umgesetzt werden, dafür gibt es nicht die geringste Garantie.
2. Nach der Wahl muß im Parlament eine Regierung gebildet werden. Koalitionsverträge werden abgeschlossen, bei denen der Bürger gar nicht mehr erst gefragt wird. Er hat ja auch keine Möglichkeit, per Stimmzettel seinen Koalitionswunsch zum Ausdruck zu bringen. Aus den Koalitionen ergeben sich neue Kompromisse: Was noch im Wahlkampf dem Bürger als Grundlage für seine Stimmentscheidung diente, kann auf einmal völlig in den Hintergrund gedrängt, weil bei den Koalitionsverhandlungen aufgegeben bzw. stark zurückgeschraubt worden sein. Ein Kabinett entsteht. Sofern es sich um eine Landtagswahl handelte, bestimmt der Wahlausgang auch die Besetzung des Kultusministerpostens.
3. Schulwesen ist Ländersache, die Kultusminister sind vom Bund unabhängig. Zur bundesweiten Koordination wurde nichtsdestotrotz die Kultusministerkonferenz geschaffen, keine ordentliche Behörde, sondern formal gesehen nicht mehr als ein Verein. Hier werden Maßnahmen erarbeitet, die der Zustimmung aller Kultusminister der Bundesrepublik bedürfen, um als beschlossen und damit auch ebenso für alle Kultusminister bindend zu gelten. Das Einstimmigkeitsprinzip ist natürlich nicht gerade der Flexibilität zuträglich. Im Ergebnis ist es zudem eigentlich grundgesetzwidrig.
4. Wie das auch bei anderen Ministern der Fall ist, befassen sich natürlich auch die Kultusminister nicht persönlich mit jeder Einzelheit jeder Angelegenheit, über die sie entscheiden. Allein schon deswegen, weil sie schwerlich in allen Sachgebieten die erforderliche Kompetenz werden aufweisen können (fürs Ministeramt gibt es keine festgeschriebenen Ausbildungsanforderungen!). Sie müssen für die Bewertung zu einem großen Teil den zuständigen Beamten ihres Ministeriums vertrauen. Diese Beamten sind allerdings in keinster Weise vom Volk gewählt, sie sind dem Volk normalerweise nicht einmal überhaupt bekannt.
5. Die Ministerialbeamten delegieren oft ihrerseits die Untersuchung der Angelegenheiten an passende Institute. Auf wen die Wahl dabei fällt, ist letztendlich ihrer Willkür unterworfen.
6. Im Falle der Rechtschreibreform ging die Initiative zur Forderung der Maßnahme sogar im wesentlichen von genau denjenigen aus, die schließlich auch mit ihrer Erarbeitung beauftragt wurden. Der Auftrag dazu kam nicht unerwartet, sondern man hat ihn sich geholt.
Mit jeder dieser 6 Stufen geht mehr vom eigentlichen Staatsbürgerwillen verloren, bis am Ende nicht nur gar nichts mehr davon übrig ist, sondern sogar etwas völlig Gegenteiliges herauskommen kann. Was die Rechtschreibreform betrifft, könnte man sogar noch eine 7. und 8. Stufe hinzufügen, in der es um Kompromisse der Reformer untereinander sowie um jene zwischen ihnen und wiederum den Ministerialbeamten geht. Zum Abschluß darf man dann noch darüber nachdenken, inwieweit die Rechtschreibreform tatsächlich korrekt und erfolgreich an den Schulen unterrichtet wird (wenn sogar viele Deutschlehrer das echte Regelwerk kaum kennen und allein schon angesichts der ziemlich konfusen Umsetzung in den Wörterbüchern) und daß viele Reformbereiche wegen der abweichenden Pressorthographien (die ebenfalls eingeführt wurden, ohne nach dem Willen der Leser zu fragen) nicht die geringste Aussicht auf Erfolg haben. Die ganze Verfahrenshierarchie enthält derartig viele Verzerrer, daß das Ergebnis schließlich alles mögliche ist, nur nicht der mehrheitliche Bürgerwille. Die Rechtschreibreform ist ein Krebsgeschwür unseres Gesellschaftssystems.
Und man sollte bei dieser Betrachtung vielleicht noch erneut darauf aufmerksam machen, daß die wichtigste Entscheidungsinstanz in der deutschen Kultuspolitik, die KMK (s. Stufe 3), demokratischer Kontrolle bereits so gut wie völlig entzogen ist. Sie gehört genaugenommen ja nicht einmal richtig zum Staat, befindet sich irgendwo unangreifbar im Niemandsland.
Die Kultusministerien ziehen sich aus der Verantwortung, indem jedem Protest gegen die Reform mit der Aufforderung begegnet wird, sich doch bitte an die nunmehr zuständige Rechtschreibkommission in Mannheim zu wenden. Auf die mehr als dürftige Volksnähe dieser Kommission ist ja Herr Ickler gerade erst wieder eingegangen.
Die totale Demokratie ist zwar eine Utopie, da das Volk die Summe vieler Individuen ist, deren Willen sich natürlich niemals voll decken können, daher muß die bestmögliche Lösung gefunden werden, eine demokratische Ordnung zu realisieren. Daß Vorgänge wie die Rechtschreibreform jedoch dem absoluten demokratischen Ideal nicht entsprechen, liegt nicht an den Zugeständnissen, die man an die Realität machen muß, sondern schlicht und einfach daran, daß die Reformakteure in der entscheidenden Phase jeder Demokratie aus dem Wege gingen, die Demokratie gezielt unterlaufen wurde.
Nun, Uwe, man sollte also nicht gerade ganz selbstverständlich davon ausgehen, daß der demokratische Charakter von Erlässen durch die Struktur des Staates in jedem Fall gewahrt ist. Zur Rechtschreibreform gibt es unzählige Belege dafür, daß diese von einer großen Mehrheit des Volkes abgelehnt wird. Hinzu kommt der von Herrn Ickler vorhin noch einmal erwähnte Bundestagsbeschluß. Sofern Du also Entscheidungen von Parlamenten für demokratisch respektierbar hältst, kannst Du unmöglich gleichzeitig die Einführungsweise der Rechtschreibreform befürworten die ja von keinem einzigen Parlament beschlossen wurde. Wir haben es hier auf ganzer Linie mit einer totalen Umkehrung der Gewaltenschichtung zu tun: Der Schwanz wedelt mit dem Hund.
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