Grosse über RSR
Der folgende Text ist undatiert, stammt wohl von Ende 1996/Anfang 1997:
Germanist Prof. Grosse zur neuen
Rechtschreibung
„Inkonsequente Reform“
”Philosophie“, „Philosofie“ oder gar „Filosofie“? Daß/ss die Rechtschreibreform nicht das Gelbe vom Ei ist, steht mittlerweile kaum noch zur
Debatte. Prof. em. Dr. Siegfried Grosse (Germanistisches Institut der RUB) hat eine eigene Sicht der Dinge und nennt im RUBENS-Interview
Aspekte, die in der bisherigen Diskussion um die Regeländerungen kaum bedacht wurden.
RUBENS: Herr Professor Grosse, welche Kritikpunkte haben Sie gegen die Rechtschreibreform vorzubringen?
Grosse: Zunächst einmal etwas Positives: Eine Reform mußte durchgeführt werden. Die Rechtschreibregeln sind seit 1901, der ersten und
bisher einzigen Reform, nicht geändert worden. Damals gab es 36 Regeln, die vom Duden weitergeschrieben wurden. 1967 waren es schon
314, bis 1990 hat der Duden diese Zahl auf etwa 240 reduziert. Jetzt sind es noch 112 Regeln.
RUBENS: Aber der Duden hat nach der ersten Reform die Rechtschreibregeln sozusagen in Eigenregie ausgeweitet?
Grosse: Ja. Zunächst mal ist er das einzige Rechtschreibebuch gewesen. Und nach 1950 hat der Duden eine Ermächtigung von der
Kultusministerkonferenz bekommen, bis zur Verabschiedung einer Reform die Rechtschreibung allein regeln zu dürfen.
RUBENS: Wie ist es denn nun zu der jetzigen Reform gekommen, nachdem bereits 1950 daran gedacht wurde?
Grosse: Die ganze Reform ging 1954 von den Dozenten und Professoren der Pädagogischen Hochschulen aus. Man muß jedoch bedenken,
daß es sehr schwierig ist, eine Reform für das ganze deutsche Sprachgebiet durchzuführen. Deutschland, Österreich, die Schweiz,
Liechtenstein, Luxemburg und Länder mit großen deutschsprachigen Minderheiten mußten unter einen Hut gebracht werden. Die Schweiz war
immer daran interessiert, die gemäßigte Kleinschreibung einzuführen, Österreich für eine vermehrte Großschreibung.
RUBENS: Der Kompromiß beseitigt aber bei weitem nicht alle Schwierigkeiten unserer Rechtschreibung?
Grosse: Es gibt Probleme, die der Laie gar nicht sieht. Das lateinische Alphabet ist ungeeignet für unsere Sprache: Es gibt dort Laute, die wir
nicht unterscheiden, z.B. „V“ und „F“. Ob es nun „Vater“ heißt oder „Folge“, in der gesprochenen Sprache wird der Unterschied nicht
deutlich. Ein weiters Problem sind unsere Zischlaute. Nimmt man einen Satz wie „Charlotte ißt acht wachsweiche Eier“, hat man viermal das
„ch“, das immer gleich geschrieben, aber viermal unterschiedlich ausgesprochen wird. Das zweite Grundproblem sind die Dialekte. Ihre
Transposition in die Hochsprache erschwert die Rechtschreibung zusätzlich. Abgesehen von der komplizierten Groß- und Kleinschreibung
kommt viertens hinzu, daß die Sprach- und Schreibgesellschaft unglaublich konservativ ist und sich gegen jede Änderung sperrt.
RUBENS: Welche Bereiche bedürfen denn einer Änderung?
Grosse: Die Bereiche, die wirklich geändert werden müßten, werden diesmal überhaupt nicht berührt. Denken Sie mal an das lange „i“: „Gib“,
„Dieb“, „Ihn“, „Vieh“ das ist ein einziger Laut, der jeweils anders geschrieben wird.
RUBENS: Also ist die Reform inkonsequent?
Grosse: Die Reform wirbelt viel Staub auf, dabei werden nur 0,5 Promille unserer Rechtschreibung verändert. Die Hauptänderung betrifft das
„ß“. Ansonsten finde ich die Entscheidung, etymologisch vorzugehen, sehr inkonsequent. Man empfiehlt, Wörter, die einer Sprachfamilie
angehören, gleich oder ähnlich zu schreiben. „Stengel“ wird künftig mit „ä“ geschrieben, weil er eine kleine Stange ist. Dann müßte man auch
„Eltern“ mit „ä“ schreiben, weil es von „alt“ kommt. Dagegen schreibt man jetzt „Quentchen“ mit „ä“: Das ist Unsinn, denn das kommt nicht
von „Quantum“, sondern von „Quintus“, dem fünften Teil eines Gewichtes. Darüber hinaus sehe ich nicht ein, warum man den „Friseur“ mit „ö“
schreibt, während der „Ingenieur“ nicht verändert wird. Es ist zudem problematisch, Fremdwörter in dem Moment anders zu schreiben, wo
Europa zusammenwächst.
RUBENS: Ihre Beispiele zeigen, daß mit der Reform kaum Vereinfachungen erreicht werden.
Grosse: Mit Ausnahme der „ß“- und „ss“-Regelung. Da hat man Versuche gemacht und gesehen, daß dies zu viel weniger Fehlern führt. Ich
hätte mir eine kräftigere Reform gewünscht, vor allem die Einführung der gemäßigten Kleinschreibung.
RUBENS: Inkonsequent ist scheinbar nicht nur die Reform selbst, sondern auch ihre Umsetzung. Vor einigen Wochen hat „Der Spiegel“
erklärt, die alte Rechtschreibung beizubehalten, „Fo-cus“ und viele Tageszeitungen wollen die Entwicklung abwarten, die Reform im Endeffekt
aber notgedrungen mitmachen. Müßten die Printmedien nicht geschlossen die Reform umsetzen, um die festgelegten Änderungen der
Rechtschreibung dauerhaft zu etablieren?
Grosse: Ich denke, wenn die Printmedien nicht mitziehen, wird das so schnell niemand merken: Wir haben mal durchgezählt: Auf fünf großen
Druckseiten wären im Ganzen etwa 37 Änderungen nötig gewesen von denen betrafen 34 die „ß“-Regelung.
RUBENS: Sie kritisieren auch die Schriftsteller, die erst jetzt, nachdem die Reform verabschiedet ist, lauthals gegen die neuen Regeln
protestieren.
Grosse: Deren Protest halte ich für völlig unverständlich. Ich weiß, da ich zu der Zeit Präsident des Instituts für Deutsche Sprache war, daß den
Schriftstellern in den letzten fünf Jahren kontinuierlich die Vorschläge zur Rechtschreibreform vorgelegt wurden, mit der Bitte um
Stellungnahme. Sie haben darauf nie geantwortet, waren sich einfach zu gut dazu. Die jetzt geschwungenen Reden, daß die deutsche Sprache
ihren Wert verliert, sind vollkommener Unsinn. Es handelt sich um technische Änderungen im Zeichensystem, die deutsche Sprache wird
dadurch überhaupt nicht berührt.
RUBENS: Ist dies jetzt auf lange Sicht die letzte Reform der Rechtschreibung?
Grosse: Das glaube ich nicht. Es wird eine Kommission beim Institut für Deutsche Sprache in Mannheim eingesetzt, in der Vertreter aus
Deutschland, Österreich und der Schweiz die Erfahrungen der Probephase beurteilen und weitere Verbesserungsvorschläge machen sollen.
Also werden wir wohl nicht noch mal hundert Jahre auf eine Reform warten müssen.
Die Fragen stellte Jens Wylkop
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Th. Ickler
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