Die Veranstaltung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste mit Reiner Kunze, Hans Krieger, Wolfgang Illauer, Peter Horst Neumann, Herbert Rosendorfer und, als Moderator, Albert von Schirnding ist vor wenigen Stunden zu Ende gegangen.
Was dort stattgefunden hat, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen getraut. Ehrlich gesagt rechnete ich mit einer eher mäßigen Beteiligung, nahm auch nur einen mittlerern Stapel des Sehstörungen-Faltblatts, des neuen Faszikels »Rechtschreibreform Eine Bilanz«, das die FDS mit Hilfe einiger Teilnehmer dieses Forums erstellt hat, und 40 Exemplare einer auf die Schnelle zusammengestellten Literaturliste der dort nicht zum Verkauf ausgelegten Bücher von Birken-Bertsch/Markner, Ickler und Krieger mit. Ich mußte zweimal in die Tiefgarage hinunter, um die 8seitige FDS-Information nachzulegen, die »Sehstörungen« waren im Nu weg, die Literaturliste sowieso. Der Verkauf des Kunze-Büchleins, über das ich hier schon laut gemeckert habe, weil es viel zu teuer ist, war sehr lebhaft, die Stückzahl habe ich nicht genau erfahren, so an die 50 dürften es gewesen sein, die Reiner Kunze geduldig signierte, das widerlegt alle meine Befürchtungen, zumal es sich schon um die zweite Auflage handelt.
Es erübrigt sich, in diesem Kreise über den Inhalt dessen zu berichten, das vorgetragen worden ist, es hieße Eulen nach Athen tragen. Neues gab es für unsereins nicht. Kunzes Text wirkt von ihm vorgetragen auf ganz andere Weise eindringlich, als wenn man ihn liest, zumal wenn man sich noch über den hohen Buchpreis ärgert. Hans Krieger, sonst ein stiller Gast vieler Akademie-Veranstaltungen, entpuppte sich als brillanter, scharfzüngiger und immer streng an der Sachkritik argumentierender Rhetoriker, Wolfgang Illauer überzeugte durch erschreckende Mitteilungen über die Folgen der Reform in der Schulpraxis, auch er kein einziges Mal die Situation übertreibend oder polemisch darstellend, ebenso die anderen Diskussionsteilnehmer.
Für mich völlig überraschend und überwältigend war aber nicht allein der Andrang des Publikums: Bis in den zweiten Raum hinein, von dem aus man das Podium mit den Rednern gar nicht sehen kann, saßen und standen die Leute, und mich erinnerte die Stimmung irgendwie an die aufgewühlten sogenannten »Sit-ins« der 70er Jahre, nur daß ein ganz anderer Menschenschlag hier zusammengekommen war, ganz unterschiedliche Leute, Studenten, Schüler und natürlich auch viele Ältere, und der Gegenstand der Diskussion viel konkreter und deshalb brisanter war, als das, was damals die Teilnehmer solcher Zusammenkünfte bewegte, womit ich der Ernsthaftigkeit vieler damaliger Anliegen sicherlich Unrecht tue. Völlig überrascht und überwältigt bin ich von der Erfahrung, wie sehr das Thema Rechtschreibreform, bei dessen Diskussion man ja manchmal schon das Gefühl bekommen kann, man würde mehr und mehr zu den sektiererischen Sonderlingen gezählt bzw. man predige gegen eine gelangweilte Sandwüste an, wie dieses Thema eine so große Anzahl von Menschen auch heute noch, sechs Jahre nach der angeblich gut gelungenen Einführung, in einem Maße bewegt und empört, wie es eben in den 70er Jahren die verschiedensten gesellschaftlichen Themen getan haben. Ich nehme an vielen Veranstaltungen der Akademie teil, natürlich gibt es dort immer einen ganz ordentlichen Besuch und Beifall, aber eine so geladene Atmosphäre, solche leidenschaftliche Zwischenapplause, habe ich dort in fast 20 Jahren niemals erlebt, und niemals eine so engagierte Diskussion auch mit dem Publikum. Das war wirklich eine Aufbruchsstimmung, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Es hat nur noch gefehlt, daß ein Unbesonnener an Rückgrat und Zivilcourage appelliert und zur Stürmung des Kultusministeriums aufgerufen hätte oder zum Marsch auf Mannheim, die wären alle marschiert, und sei es um sich vor den meteorologischen Unbilden des Langen Marsches zu schützen mit Papierhelmen, die sie sich aus der dort ebenfalls aufliegenden »Deutschen Sprachwelt« hätten basteln können, wofür diese Postille ja bestens geeignet wenn nicht geradezu prädestiniert gewesen wäre.
Aber um wieder ernsthaft zu werden: Es hat sich gezeigt, daß es immer noch, oder jetzt erst recht, nachdem wir seit Jahren mit dieser Mißlichkeit leben, ein tiefes Unbehagen über die Rechtschreibreform in großen Kreisen der gebildeten Bevölkerung aller Altersgruppen gibt, bei denjenigen eben, die sich ihre intellektuelle und kulturelle Mündigkeit nicht absprechen lassen wollen. Und eine Empörung über die Bevormundung durch die Staatsschranzen, die Schulbehörden aber in ganz besonderem Maße durch die Presse, wobei der lautstark vernehmliche Zorn hier ganz eindeutig sich gegen unser Münchner ehemaliges Intelligenzblatt, die »Süddeutsche Zeitung« richtete, von denen offensichtlich niemand zugegen war. Die FAZ hatte wohl jemanden geschickt, wir werden es ja sehen, ob es dort etwas über diesen Abend zu lesen geben wird.
Fazit der Veranstaltung und eindeutige Willenserklärung der Podiumsteilnehmer sowie der Besucher: Wir dürfen uns niemals mit dieser staatsbürgerlichen und intellektuellen Bevormundung und Demütigung abfinden! Und: Es werden weitere Veranstaltungen dieser Art und öffentliche Verlautbarungen unterschiedlichster Art folgen, die Talibane in Mannheim, Berlin und in den Kultusbehörden werden keine Ruhe finden!
Ist das nicht herrlich? Allons, enfants de la patrie! Ach pardon, das paßt nicht unter den Papierhelm.
– geändert durch Walter Lachenmann am 04.12.2002, 11.33 –
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Walter Lachenmann
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