Sprech- und Sprachhandeln
Wenn es eine neue Grammatik geben sollte, dann müßte sie in erster Linie der Losung der Kultusministerkonferenz entsprechen. Sie müßte „kindgemäß“ sein.
Das ist die Grammatik der allgemeinbildenden Schulen im übrigen schon seit Anfang der 70er Jahre.
KMK-definierte Kindgemäßheit erwies sich beispielsweise darin, daß die Bezeichnungen für die Wortarten variabel gestaltet wurden. Der Begriff „Verb“ durfte ab 1971 ausgetauscht werden gegen: „Tunwort, Zeitwort, Tätigkeitswort“. Für „Nomen“ galten auch: „Substantiv, Namenwort, Hauptwort, Dingwort, Nennwort“. „Adjektive“ wurden ebensowohl definiert als: „Wiewort, Eigenschaftswort, Beiwort“.
Daß der kultusministerielle Eingriff in das kategorische System nennenswerte Erfolge gebracht hätte, kann ich nicht bestätigen, will jedoch an dieser Stelle darauf hinweisen, daß Bayerns Bildungshüter offensichtlich selbst ins Schwanken gerieten, denn, nachdem sie den Gebrauch von lateinischen Ausdrücken zwischenzeitlich ganz aus dem Lehrplan verbannt hatten, führten sie später die Begriffe „Verb, Substantiv, Adjektiv“ wieder als mögliche Alternative ein, weil – so die Begründung – „die weiterführenden Schulen derartige Begrifflichkeit voraussetzten“.
Dies als Beispiel kultusministerieller Weitsichtig- und Engstirnigkeit.
„Kindgemäß“ ist im übrigen ein Ausdruck, bei dessen Verwendung sich mir die Fußnägel aufrollen. Was man hiermit meint, ist doch wohl besser mit „altersgemäß“ bezeichnet.
Bei „Kindgemäßheit“ assoziiere ich nämlich ausschließlich Zuwendungshandlungen wie füttern, Hintern abputzen, hegen, pflegen, behüten, spielen und treiben lassen.
„Altersgemäßheit“ dagegen hat etwas mit Förderung und Forderung zu tun. Denn, dem Reifegrad entsprechend kann man die Kinder an jenem Ort abholen, an dem sie sich gerade befinden. Selbstverständlich muß sich der Pädagoge dabei der Sprache bedienen, die das Kind versteht, und er muß den Abstraktionsgrad des Denkens kennen, der die Altersstufe auszeichnet.
Ganz entschieden widerspreche ich in diesem Zusammenhang der Behauptung von Professor Ickler, daß man die Kinder nicht allzu früh mit Grammatik füttern sollte. Mit einem Beispiel will ich das belegen.
In der Grundschule kann, muß und sollte man den Kindern sehr wohl Wesentlichkeiten der Wort- und Satzbildung verdeutlichen, zumal sich die Wirksamkeit eines altersgemäßen Grammatikunterrichts unmittelbar an stilistischen Verbesserungen im Bereich der schriftlichen Sprachgestaltung ablesen läßt.
Ich greife als Beispiel die „offene und variable Satzgliederstellung innerhalb der deutschen Sprache“ heraus, und formuliere für 8jährige Schüler den Auftrag, mit folgender Wortansammlung Sätze zu bilden: „Vater, Mutter, schenken, Blumenstrauß, mittags ...“
Man wird es kaum glauben, wie lehrreich eine solche Schulstunde werden kann, die sich nicht auf grammatische Stupiditäten erstreckt.
Ganz schnell haben die Schüler nämlich verstanden, daß es hier einen Schenker und einen Beschenkten gibt, bzw. einen „Satztäter“ und einen „Satznehmer“.
Und wenn man einigen Schülern gar noch beschriebene Wortschilder in die Hand gibt, mit denen sie sich vor der Klasse aufstellen, dann fordern die auf den Stühlen verbliebenen Mitschüler ihre zum Rollenspiel aufgeforderten Kollegen ständig auf, ihre Positionen zu vertauschen, damit stets neue Sätze entstehen:
„Vater schenkt Mutter mittags einen Blumenstrauß.
Mittags schenkt Vater Mutter einen Blumenstrauß.
Einen Blumenstrauß schenkt Vater Mutter mittags ...“
Bei derartigem Sprech- oder Sprachhandeln lassen sich die schönsten Schlüsse – sogar fächerübergreifende ziehen. Schüler z.B. erkennen, daß der Schüler, der das Wort „schenkt“ in Händen hält, stets auf der gleichen Stelle stehen bleibt, daß die Schüler, welche die Worte „einen“ bzw. „Blumenstrauß“ in Händen tragen, stets in der gleichen Reihenfolgen nebeneinanderstehen; und fächerübergreifend kann man feststellen, daß in einigen Familien sogar die Frauen Blumen verschenken.
Wie gesagt: Diese einfachsten Erkenntnisse tragen viele Früchte im schriftlichen Sprachgebrauch (ehemals Aufsatzerziehung), insbesondere dann, wenn sich dem anschaulichen Rollenspiel noch eine gründliche, formale und abstrahierende Übung mit weiteren Wortsammlungen anschließt.
Eine abschließende, nicht ganz ernst zu nehmende Bemerkung:
Sollte es eine 96er-Grammatik geben, dann dürfte das in den Schulstuben zu ernsthaften Schwierigkeiten führen, denn nach ebenso ernsthaften Überlegungen der Bildungsfürsten sollte die Kapazität einer Klasse ja maximal zwischen 18 von 24 Schülern betragen.
Stellen wir uns in diesem Zusammenhang einmal vor, ein Lehrer wollte den Schülern in der vierten Jahrgangsstufe den Gebrauch des Attributs (Beifügung) beibringen, und er würde in seine Wortansammlung Wörter wie „krank geschrieben“, „Dienst habend“ und „rötlich braun“ einfügen.
Das könnte ganz schön eng werden, weil nach der Verordnung zugunsten der gehäuften Getrenntschreibung dann die gesammelte Schülermannschaft schilderhaltend vor der Tafel stünde, und keiner mehr da wäre, der das Kommando zum Umstellen gibt.
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