Miniwahr - Minikult
Ich muß bei dem immer mal wieder zu vernehmenden Spruch, die Anwender der bewährten Orthographie könnten bald nicht mehr richtig schreiben oder würden sich dem Lernen verweigern, immer wieder an 1984 denken: Eben noch mit Eurasien im Krieg und mit Ostasien verbündet, von einer Sekunde auf die andere mit Ostasien im Krieg und mit Eurasien verbündet, und zwar dies immer schon gewesen (erinnert fatal an die Nachweise für Neuschreibungen im aktuellen Großen Duden) oder umgekehrt. Und der brave Untertan plärrt die Parolen fleißig mit, ohne aufzumucken, ohne darüber nachzudenken, was wohl in Wahrheit dahinterstecken könnte, denn ein zu grüblerisches Gesicht könnte ja die Gedankenpolizei auf den Plan rufen. Viel schlimmer noch in unserer Realität: Man könnte als nicht zeitgemäß", als nicht fit für die Zukunft angesehen werden! Welch grausame Strafe! Von Ratten bei lebendigem Leibe gefressen zu werden, wäre auch hier tatsächlich eine zwar etwas heftige, doch nicht ganz unpassende Metapher: Man muß befürchten, von den meinungsmachenden Medien als weltfremder Idiot, als anpassungsunfähiger Depp, als kinderfeindlicher Querulant dargestellt zu werden. Und die Medien, die haben doch immer recht, äh: Recht! Welch Anmaßung, am Wahrheitsgehalt z.B. von Springerblättern zu zweifeln, wurde mir jüngst gerade vom Abendblatt-Mitarbeiter Peter Meyer entgegengehalten...
Alte Zeitungen, in denen noch etwas anderes als die gegenwärtig zur solchen deklarierten Wahrheit steht, werden in 1984 vaporisiert, bei uns ist es die 20. Auflage des Dudens, die mit Erscheinen der reformgemäßen 21. Auflage flink eingestampft wird obwohl die darin verzeichneten Schreibweisen noch bis 2005 sogar in der Schule nicht falsch sind. Die Rechtschreibreform ist eine Reform und Reform bedeutet doch Verbesserung des Zustands, steht doch im Duden, also muß doch die Rechtschreibreform eine Verbesserung des Rechtschreibzustands sein, nicht wahr? Nein, nicht wahr.
Die neue Rechtschreibung führt in Wirklichkeit zum größten Teil alte, längst überkommene Schreibweisen wieder ein. Was neu ist, hat man nicht zu wissen, sondern als braver Untertan den Fürsten, die uns mit weiser Hand regieren, zu glauben. Was der Staat Reform nennt, ist gut, klug, prächtig, Beweisführung abgeschlossen.
Ursprünglich war es das Credo der Reformer, die gemäßigte Kleinschreibung sei die Essenz fortschrittlicher Orthographie, durch die jetzt eingeführte Reform wird mehr groß geschrieben als zuvor, sogar klar entgegen der Grammatik. Gestern noch Ostasien, heute Eurasien.
Lernfähigkeit drückt sich nicht darin aus, sich unkritisch von irgendwelchen Strömungen mitreißen zu lassen. In der Geschichte dieser Nation hat es dafür eine Lektion gegeben, die eigentlich deftig genug gewesen sein müßte, sollte man meinen.
Übrigens ist zu bedenken, daß viele Reformgegner, vor allem die hiesigen Diskutanten, sich sehr viel ausführlicher mit den neuen Regelwerk auseinandergesetzt haben, als das wohl auf die meisten Lehrer und erst recht die verantwortlichen Kultusminister zutreffen dürfte. In diesem Zusammenhang von Lernverweigerung zu reden, ist daher ziemlich absurd.
– geändert durch Christian Melsa am 29.04.2001, 17:18 –
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