Noch ist es nicht zu spät...
...ich habe so oder so noch nie verstanden, wozu dieser Kraftakt überhaupt
nötig gewesen ist. Wir haben weiterhin unser heißgeliebtes "ß" auf der
Computertastatur, die Mehrzahl der Schüler versagt noch immer bei dem Versuch,
einen Satz korrekt zu gliedern, der mehr als zwei Zeilen lang ist, und
Deutsch wird auch in Zukunft eine der am schwersten zu lernenden Fremdsprachen
der Welt sein!
Wie kein zweites Land ächzt Deutschland unter der Geißel der Bürokratie, die
Menschen sehnen sich nach einem durchschaubareren Steuersystem, weniger
Papierkrieg und einem prägnanten Regelwerk für die Rechtschreibung. Was sie
im letzteren Fall bisher bekommen haben, ist ein unausgegorenes Machwerk, das
über den Haufen wirft, was sich jahrzehntelang bewehrt hat, und einführt,
wonach nie jemand verlangt hat! Auf chaotischen Konferenzen und in verstaubten
Amtsstuben wurde verantwortungslos zertrümmert und notdürftig wieder
zusammengeflickt, was die Deutsche Bevölkerung völlig zwanglos, ohne
Streitigkeiten und wie von selbst geschaffen hatte: eine Schriftsprache,
die sich erlernen ließ und die sich ständig weiterentwickelte- immer modern
und zeitgemäß- und immer neuen Tendenzen aufgeschlossen.
Mit den Amerikanismen wären wir fertig geworden, mit den Vereinfachungen und
kleinen Sünden der E-Mail-Süchtigen auch und mit der einen oder anderen
Schifffahrt erst recht. Die Rechtschreibreform aber wollte zuviel auf
einmal- plus, sie wurde offentsichtlich von Kulturbanausen und Spinnern
ausgeheckt. Beispiel gefällig?
Die Prostata ist bekanntlich die berüchtigte Vorsteherdrüse, die jeder Mann
sein Eigen nennt, und- selbst für den Laien erkennbar- ein Fremdwort, eins
aus dem Lateinischen, um genauer zu sein. Man kann es sich ja eigentlich
denken, pro heißt vor und stata ist die, die steht. Wollte ich
dieses Wort trennen, würde ich als gebildeter Mensch wohl das pro vom
Rest separieren und nicht das pros vom tata. Tatütata, die Herren
und Damen Kultusminister!!! Geht ja noch weiter, unendlich lange weiter.
Ich habe echt nix gegen Leute, die Delfine toll finden, Frisör werden
wollen oder sogar ein bischen sprachliche Fantasie besitzen, ich werde
aber auch in Zukunft Schrift und Sprache als das ehren, was sie sind: das
Ergebnis jahrtausendelanger kultureller Entwicklung und globaler Kommunika-
tion. Den Tag, an dem ich Prophet mit f, Philosophie gar mit zwei fs
und Apokalypse mit "ü" schreibe, wird die Rechtschreibreform nicht mehr
erleben...
Die Bürger hatten ihre Stimme ja gegen das kostspielige Mammut- und
Prestigeprojekt der offensichtlich unter Langeweile und Beschäftigungsarmut
leidenden Bildungs-Politiker erhoben, oft habe ich mich gefragt, warum die
wahren Schutzherren unserer Sprache, die tagtäglich erscheinenden Zeitungen,
die Verlage und auch die Schriftsteller so verdächtig still geblieben waren.
Hatten die etwa Profit gewittert? Wie viele andere habe ich mich dem stillen
Protest gewidmet, vor Toresschluß noch einen alten Duden ergattert und seitdem
so geschrieben, wie alle anderen Menschen um mich herum auch. Die armen
Lehrer, habe ich gedacht, die armen kleinen Grundschüler, die die Leittragen-
den dieses Skandals sein werden. Die Reform war eine Katastrophe auf Probe,
die Gesellschaft selten so geeint in der Ablehnung einer politischen Idee,
wie in diesem Fall. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis der
Spuk in sich zusammenbricht, die Bild-Zeitung alleine hätte ihn jederzeit
implodieren lassen können, und jetzt scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein.
Die Medien sind eine Macht in Deutschland, sie machen Politik, nicht bloß
Meinung oder Geld, ich hätte lieber ehrlichere Verbündete im Kampf gegen
die Rechtschreibreform als die Bild-Zeitung, Verbündete ohne immense
Kapitalinteressen und Lobby-Gewurschtel-Zwänge, aber dieses Mal muß es wohl
auch so gehen. Dies kann durchaus der Fallstrick sein, über den die
Kultusministerkonferenz stolpert, so viel geballte Macht und so viel Einfluß
hatte die Reform noch nie gegen sich. In dieser Atmosphäre der Gegenwindes
müssen auch wir uns wieder Gehör verschaffen. Die Situation ist festgefahren!
Völlig schmerzlos wird der Umstieg auf eine kleinere, vorsichtigere Reform
oder gar das vollständige Zurückdrehen der betreffenden Uhren sicher nicht
vonstatten gehen, das muß aber in Kauf genommen werden, ansonsten ist es
bald zu spät und Deutschland bleibt auf dieser klapprigen Halb-Lösung sitzen,
die 90% der Bürger voller Inbrunst ignorieren oder gar verachten...
Endlich wieder ein Hauch von Protest und Initiative in diesem stoisch und
zynisch gewordenen Land!!!
Ciao, AR
A. Rohlf Heidelberg
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