Ein Kommentar zur hessischen Propaganda
10 gute Gründe für die Rechtschreibreform
1. Einfachheit der Rechtschreibung
Konrad Duden, der Vater des Duden, forderte schon 1902, auf die Einheit der deutschen Rechtschreibung in allen deutschsprachigen Ländern müsse nun auch die Einfachheit folgen. Diese blieb allerdings für die folgenden Jahrzehnte eine Utopie. Im Gegenteil: Das Regelwerk der deutschen Rechtschreibung wurde zusehends undurchdringlicher.
Der erste Irrtum: Das amtliche Regelwerk ist mit 96 Seiten – die ja so schon keinen Bestand in den Wörterbüchern mehr haben – umfangreicher und kryptischer als jegliche Darstellung im Duden zu jedweder Zeit. Aber Frau Wolff hat das amtliche Regelwerk sicherlich niemals auch nur im Ansatz gelesen.
2. Alte Rechtschreibung – viele Ausnahmen untergraben die Regeln
Das bekannte Sprichwort „Ausnahmen bestätigen die Regel“ gilt vielleicht im Leben, nicht aber bei der Rechtschreibung. Zahlreiche Ausnahmen, Einzelfallregelungen und sich widersprechende Festlegungen machten die Rechtschreibung unübersichtlich und kompliziert. Resultat waren Probleme im Rechtschreibunterricht und schlechte Kenntnisse der Regeln nicht nur bei Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei versierten Schreiberinnen und Schreibern.
Eine neue Erkenntnis: Auch versierte Schreiberinnen und Schreiber hatten schon immer Probleme mit der herkömmlichen Schreibung. Eine Behauptung, deren Beweis Frau Wolff wohlweislich schuldig bleibt. Hiermit soll suggeriert werden, daß die reformierte Schreibung nicht nur den Schulen die so ersehnten “Erleichterungen” bringt, sondern dem gesamten Volk.
3. Neue Rechtschreibung – bessere Erlernbarkeit und Handhabbarkeit
Die neue Rechtschreibung stärkt Prinzipien und Grundregeln, vermeidet Ausnahmen und baut Überregulierungen ab. Die richtige Schreibweise kann von einer Regel abgeleitet werden. Die neuen Regeln sind daher einfacher zu vermitteln und leichter zu lernen. Dies zeigt die Broschüre Rechtschreibung gut erklärt des Hessischen Kultusministeriums. http://www.kultusministerium.hessen.de (Presse/Publikationen – Broschüren).
Der nächste Irrtum: Schüler lernen das Schreiben nun einmal nicht durch das Auswendigpauken von Regeln, sondern durch Lesen. Außerdem: Erlernbar ist vieles, auch der größte Unsinn. Aber Schulunterricht ist doch kein Selbstzweck. Den Wahlspruch “Non scola, sed vita discimus” scheint Frau Wolff nicht begreifen zu wollen.
4. Das Stammprinzip wird gefestigt
In der deutschen Rechtschreibung gilt grundsätzlich das Stammprinzip. Das bedeutet, dass sich die Schreibung eines Wortes nach seinem Stamm richtet, also dem Wort, von dem es sich ableitet. Der Stamm des Wortes länglich ist lang. Verstöße gegen dieses Prinzip sind in der neuen Rechtschreibung beseitigt. Das Wort Stengel (alte Rechtschreibung) hat seinen Wortstamm in Stange und wird daher jetzt Stängel geschrieben. Ebenso verhält es sich bei überschwänglich (früher: überschwenglich) und Überschwang.
Ja. Und folglich schreiben wir jetzt sätzen wegen Satz und gedänken wegen Gedanke!
5. Neue s-Schreibung
Für das stimmlose s steht nach kurzem betontem Vokal ss, also Amboss (statt früher Amboß; nass statt naß). Das führt zu einheitlichen Schreibweisen Fluss schreibt sich wie Flüsse , wo früher Abweichungen gelernt werden mussten. Gemäß dem Stammprinzip bleiben auch hier die Schreibweisen gleich, z.B. küssen – sie küsst – er wurde geküsst ( früher: sie küßt, er wurde geküßt).
Von den Übergeneralisierungen (aussen, Strasse usw. usf.) abgesehen, die allenthalben zu lesen sind, wird hier nichts leichter: fließen, floß vs. fließen, floss. Insbesondere die Schreibung Spaß dürfte in einigen – auch hessischen – Landesteilen wegen der kurzen Aussprache zum Spass verkommen.
6. Keine Streichung beim Zusammentreffen von drei Konsonanten
Bis 1991 wurden für den Fall des Zusammentreffens dreier Konsonanten insgesamt zehn Regeln entwickelt, was in solch verschiedenen Schreibungen wie Ballettänzer, Balletttruppe und Ballettheater gipfelte. Jetzt werden bei allen Versionen alle drei Konsonanten geschrieben (Balletttänzer, Balletttruppe und Balletttheater).
Wer hat denn hier gezählt und ist auf zehn Regeln gekommen? Frau Wolff: Zählen sechs, setzen!
7. Getrenntschreibung wird geregelt
Verbindungen aus Substantiv und Verb (Rad fahren) sowie steigerbarem Adjektiv und Verb (übel nehmen) werden nach den neuen Regeln immer getrennt geschrieben. Bei der Kombination zweier Verben hing die Schreibweise bisher von den verschiedenen Bedeutungen dieser Kombination ab. „Er ist auf dem Stuhl sitzen geblieben“ aber: „Er ist in der Schule sitzengeblieben“. Im Widerspruch dazu wurden aber auch Worte zusammengeschrieben, ohne dass ein neuer Begriff entstanden war (spazierengehen); in anderen Fällen wurde trotz übertragener Bedeutung getrennt geschrieben (baden gehen). Die neuen Regeln verlangen jetzt in allen Fällen die Getrenntschreibung.
Und jetzt die olle Kamelle von rad- und autofahren. Frau Wolff beharrt darauf, an den Schulen etwas zu lehren, was im wahren Leben schon nicht mehr gilt: Sie schaue in den neuen Duden, 23. Auflage, ab 28.08. im Handel. Stichwort: §36, amtliches Regelwerk und die dazu beschlossenen “Feinjustierungen”. Ob die Beispiele auf diesen Seiten geändert werden?
8. Großschreibung von Substantiven wird gestärkt
So werden jetzt alle Tageszeiten nach gestern, heute und morgen (gestern Nacht, heute Morgen) und Substantivierungen (der Einzelne, als Erster, im Dunkeln) konsequent großgeschrieben. Zugleich wird die Schreibweise bei feststehenden Ausdrücken vereinheitlicht (früher: mit Bezug auf, aber in bezug auf; jetzt: mit Bezug auf, in Bezug auf).
Nur eine Frage dazu: Wie kann man die Großschreibung von Substantiven “stärken”, wenn man gar keine solchen vor sich hat: “gestern Nacht”, “tut mir Leid” usw.? Grammatik soll in Hessens Schulen demnächst wohl nicht mehr gelehrt werden.
9. Kleinschreibung bei festen Verbindungen von Adjektiv und Substantiv wird festgelegt
Bei Verbindungen von Adjektiven und Substantiven, die keine Eigennamen sind, wird das Adjektiv jetzt immer klein geschrieben, also: schwarzes Brett, schwarze Liste, goldener Schnitt und goldene Hochzeit. Bisher hieß es: Schwarzes Brett aber schwarze Liste, Goldener Schnitt aber goldene Hochzeit.
Eine Regel, die so gar nichts bringt, weil sie nicht befolgt wird, siehe alle(!) Zeitungen.
10. Trennung nach Sprechsilben
Mehrsilbige Wörter werden jetzt so getrennt, wie es sich beim Sprechen ergibt. Das frühere Verbot der Trennung von st gilt nicht mehr (Wes-te, Kas-ten) und es kann auch ein einzelner Vokal am Wortanfang abgetrennt werden (A-der, I-gel).
Ach, was trenne ich jetzt gerne Bi-omüll aus der Kons-truktion in der Indus-trie.
10 gute Beispiele, die zeigen, dass die Reform logisch ist
alte Rechtschreibung neue Rechtschreibung
1. der Fluß – die Flüsse ; der Fluss – die Flüsse
2. ich muß – wir müssen ; ich muss – wir müssen
und fließen floss
3. Stange – Stengel ; Stange – Stängel
4. Überschwang – überschwenglich ; Überschwang – überschwänglich
eine bedänkliche Regelung wegen “Bedanken”
5. Schiffahrt ; Schifffahrt
Schifffracht ; Schifffracht
und Schlammmassen oder gar Schlammmmassen?
6. radfahren ; Rad fahren
Auto fahren ; Auto fahren
das gute Argument darf natürlich nicht fehlen. Deswegen wurde die ganze Reform ja mal ins Rollen gebracht und sollte 50 Prozent weniger Fehler an den Schulen bringen.
7. ein Sprung ins Dunkle ; ein Sprung ins Dunkle
etwas im dunkeln lassen ; etwas im Dunkeln lassen
das bringt die Erstkläßler entscheidend voran.
8. spazierengehen ; spazieren gehen
bummeln gehen ; bummeln gehen
Duden, 23. Auflage, mal reinschaun.
9. rein halten ; rein halten
sauberhalten ; sauber halten
dito.
10. Platz plazieren ; Platz – platzieren
und Kackofonie wegen…
1. Die alte Rechtschreibung hat sich nicht bewährt
Es kann keine Rede davon sein, dass die alte Rechtschreibung “funktioniert“ hätte. Auch geübten Schreibern unterliefen immer wieder zahlreiche Fehler, weil der Dschungel der alten Regeln undurchdringlich war und verwirrte. Allein im 20. Jahrhundert gab es mehrere Anläufe zu einer Reform, stets getragen von Germanisten, Hochschullehrern und Schullehrkräften.
Jetzt lernen wir aus amtlicher Quelle endlich, daß die herkömmliche Rechtschreibung nicht funktioniert hat. Endlich nun bringt uns diese “verschlankte” und “entrümpelte” reformierte Rechtschreibung das Heil, getragen von Organisationen, die ihre Mitglieder nie gefragt haben, ob sie diese denn haben wollten.
2. Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung wurde gründlich vorbereitet
Die Regeln der neuen Rechtschreibung sind keine beliebigen Erfindungen der Bürokratie oder Politik. Sie sind vielmehr von Sachverständigen in nationalen Kommissionen der deutschsprachigen Länder und in einem gemeinsamen Internationalen Arbeitskreis vorbereitet worden und somit wissenschaftlich begründet und abgesichert.
Nächster Irrtum: Es waren keine Sachverständigen, sondern Fachexperten nach eigenem Bekunden. Diese durften sich ihre Zeugnisse auch immer brav selbst schreiben.
3. Die Rechtschreibreform war von Zustimmung begleitet
Die Kultusministerkonferenz hat dafür gesorgt, dass die unterschiedlichen Interessen in die Diskussion um die Rechtschreibreform einbezogen werden. Die Neuregelung wurde breit erörtert und einem mündlichen und schriftlichen Anhörverfahren unterzogen, bevor sie beschlossen wurde. In einem Beirat waren Zeitungsverleger, Schriftsteller, Nachrichtenagenturen etc. an den jüngsten Beratungen beteiligt.
Das ihr eigene Weltbild werden wir Frau Wolff nicht nehmen können. Ich befürchte, sie glaubt, was da steht.
4. Die Neuregelung der Rechtschreibung ist pädagogisch sinnvoll
Lehrer- und Elternverbände haben die Neuregelung der Rechtschreibung begrüßt. Die Praxis bestätigt diese Haltung. Nach der Einführung an den Schulen haben Lehrkräfte bei Befragungen, Untersuchungen und Erhebungen in verschiedenen Ländern jeweils mit überwältigender Mehrheit erklärt, dass die neuen Regeln leichter zu erlernen und besser zu vermitteln sind. Die schulischen Erfahrungen mit der Rechtschreibreform sind also eindeutig positiv.
Man möchte gerne die Befragungen, Untersuchungen und Erhebungen irgendwo finden. Bitte, wo nur?
5. Die Rechtschreibreform wurde deutschlandweit angenommen und ist in den deutschsprachigen Nachbarländern akzeptiert
Im Jahr 1999 stellten die deutschen Behörden, die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen und die deutschsprachigen Presseorgane ihre Rechtschreibung um. Zwei Jahre später erschienen bereits 75% aller Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt in der neuen Rechtschreibung. Auch in den anderen beteiligten Ländern besonders Österreich, der Schweiz und Liechtenstein wurde die Rechtschreibreform problemlos eingeführt. Die Rückkehr zur alten Rechtschreibung war dort bis zum Aufflammen der Diskussion in Deutschland kein Thema. Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung wurde mit diesen Partnern verabredet; zu seinem international gegebenen Wort muss man stehen.
Nur gut, daß hier nicht vom “Staatsvertrag” die Rede ist. “international gegebenes Wort” hört sich klasse an und ist nicht so nichtssagend wie “Absichtserklärung”.
6. Die Einführung der Rechtschreibreform verursachte keine Probleme an den deutschen Schulen
Rund 12,5 Millionen Schülerinnen und Schüler lernen seit 1998 (die meisten haben sogar schon 1997 damit begonnen) nach dem neuen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung. Rückmeldungen aus den Schulen lassen keinerlei Probleme erkennen. Im Gegenteil: Die neuen Regeln erleichtern das Lernen, denn jede Ausnahmebestimmung schwächt die Beherrschung der Grundregel.
Frau Wolff wiederholt sich.
7. Rücknahme der Rechtschreibreform bedeutet Verunsicherung
Eine Rücknahme der Rechtschreibreform würde zu einer tiefen Verunsicherung führen. Besonders bei Schülerinnen und Schülern könnte der Eindruck entstehen, dass es „sowieso egal“ ist, wie man schreibt. Aber: Wer falsch schreibt, macht Fehler, die sich nicht nur auf die Note im Fach Deutsch auswirken. Auch alle anderen, die Wert darauf legen „richtig“ zu schreiben, würden die Festsetzung von Rechtschreibregeln als etwas Beliebiges empfinden.
Der erste Satz galt bei der Einführung der Reform nicht, wieso soll er jetzt gelten? Auch wenn ich mich jetzt wiederhole: Schüler sollen in der Schule auf das Leben vorbereitet werden. Es gilt nicht, in der Schule Unfug zu vermitteln, der außerhalb dieser keinen Bestand hat!
8. Die Rechtschreibreform hat die deutsche Sprache nicht verändert
Der Vorwurf, dass die Rechtschreibreform die deutsche Sprache verändert habe, ist abwegig. Rechtschreibung und Sprache sind zwei Seiten einer Medaille. Rechtschreibung ist nicht der Motor von Sprache, sondern betrifft nur ihre konventionelle und veränderbare schriftliche Umsetzung. Andere Schreibkonventionen ändern nicht die Sprache. Ebenfalls falsch ist, dass die vermehrte Getrenntschreibung zu einer Wortvernichtung führe. Aufgegeben wird lediglich die grafische Kennzeichnung einer Bedeutungsdifferenz (sitzen bleiben – sitzenbleiben). Da im Prinzip nur Ausnahmen und Ausnahmeregeln abgebaut wurden, ist das Änderungsvolumen gering. Es umfasst ca. 2% aller Worte: Kein Grund also, den Untergang der deutschen Sprache herbeizureden.
Hier liegt der wahre Hund begraben: die Auffassung von einer “veränderbaren schriftliche Umsetzung” der Sprache in die Schrift und damit die Einverleibung einer vermeintlichen Legitimation zu einem bewußten Ändern der Schriftsprache durch eine nur durch sich selbst kontrollierte staatliche Kommission.
9. Hohe Kosten durch Rückkehr zur alten Rechtschreibung
Allein durch den Neudruck und die Neuausgabe von Schulbüchern entstünden hohe Kosten. Die Schulbuchverlage rechnen damit, dass eine Rücknahme der Reform mit bis zu 250 Millionen Euro bei ihnen zu Buche schlagen würde. Hinzu kämen die Kosten, die den Schulen durch den Kauf neuer Bücher entständen. Eine Ausgabe, die in den Zeiten leerer Kassen und gravierender Einsparmaßnahmen nicht vertreten werden kann.
Die alte Leier: Die Einführung der Reform sollte nichts kosten, jetzt kostet die Rücknahme auf einmal das zig-fache von Nichts: 250 Millionen.
10. Die Rückkehr zur alten Rechtschreibung würde die Unfähigkeit Deutschlands zu Reformen bestätigen
Die Rechtschreibreform ist gemessen an dem Reformbedarf, der in unserem Land besteht, eine kleine Reform, die viel weniger als alle anderen in das Leben der Bürgerinnen und Bürger eingreift. Die Rücknahme der Rechtschreibreform würde einmal mehr die Unfähigkeit Deutschlands zu Reformen bestätigen.
Dieses Argument darf zum guten Schluß nicht fehlen. Lasset uns beten: “Die Reform ist gut. Die Reform ist gut. Die Reform ist gut.”
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Karsten Bolz
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