Kaum zu glauben!
Folgendes entnehme ich einem Beitrag über die Gestaltung von Schulbüchern im Börsenblatt vom 19. Juli 2002:
Lesen und Schreiben bleiben die wichtigsten Kulturtechniken. Schriftzeichen unterscheiden zu lernen, ist am Anfang ein bisschen anstrengend, und bis aus dem Buchstabieren müheloses Lesen wird, braucht es Zeit und Übung. [...]
Bei den Satzschriften dominiert die solide serifenlose »Schulbuch« mit den Varianten »Nord« und »Süd«. Neuerdings gibt es auch eine »Schulbuch Bayern«, die besonders detaillierte Vorgaben des bayerischen Grundschul-Lehrplans umsetzt. Da die Einzelzeichen nicht miteinander harmonieren, ist diese Schrift leider schlecht lesbar.
Einen eigenen Schrift-Weg geht Volk und Wissen und setzt die ebenso lesefreundliche wie ästhetische »Gill Sans« ein; die problematischen Buchstaben (zum Beispiel g, a) ließ Frank Schneider, der Künstlerische [sic] Leiter, neu entwerfen. Über Alternativen zu den üblichen Fibelschriften denkt auch Knut Waisznor bei Cornelsen nach. Nicht nur er wünscht sich eine unabhängige Institution, die Schriften nach bestimmten Kriterien prüft beziehungsweise Lesbarkeitstests durchführt.
[usw.]
Von Frau Menges an meine Kindheitserinnerungen gemahnt, frage ich mich, wie es unsereinem und all den belesenen und schreibkundigen Generationen davor möglich gewesen ist, Lesen und Schreiben überhaupt nur ansatzweise zu erlernen. Ich erinnere mich an die erste Fibel: Alma, Mama, Haus, Bube, Blume, Heil Hitler, das war halt ordentlich in irgendeiner klaren Blockschrift gedruckt, die man ähnlich im Kreuzwort-Pullock und auch in der tagtäglichen Umgebung wiederfand und dann auch voll Stolz irgendwann ablesen oder nachmalen konnte. Wie haben wir das nur geschafft? Waren die Zeiten doch karg! Gab es damals doch keine Experten, die für jede deutsche Region eine eigene »Schulbuch« erfanden, keine unabhängige Kommission, die nicht allein immerzu neue, in der Regel immer häßlichere und unleserlichere Schriften a) zum Schreibenlernen und b) zum Lesenlernen sich ausdenkt, sondern diese dann nach bestimmten Kriterien prüft beziehungsweise Lesbarkeitstests durchführt.
Bei Daimler-Chrysler soll sich eine »hoch karätige« Experten-Kommission damit befassen, das Rad zu erfinden und nach bestimmten Kriterien auf seine Verwendbarkeit zu prüfen.
Man muß den Tatsachen gefaßt ins Auge sehen: Wir haben es mit lauter Verrückten zu tun.
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Walter Lachenmann
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