Serifen
Die Frage der besseren Lesbarkeit von serifenlosen Schriften ist tatsächlich sehr interessant und wird nach meiner Überzeugung vielfach eher ideologisch denn pragmatisch beantwortet. In diesem Forum wurde vor einigen Tagen über die Futura diskutiert, eine serifenlose Schrift aus den 20er/30er Jahren, die – besonders in der Urform ihres Gestalters Paul Renner – ästhetisch sehr schön ist. Ich selbst fand sie, ebenso wie so gut wie alle anderen serifenlosen Schriften, deren erste wohl Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind, niemals so lesefreundlich wie die klassischen Druckschriften Garamond, Bembo, Baskerville und wie sie alle heißen, die alle auf Schriftgestalter der Renaissance zurückgehen, die sich ihrerseits wiederum am Schönheitsideal der Schriften der Antike orientiert haben. Die Funktion der Serifen hat mit der Lesbarkeit eigentlich gar nichts zu tun, Serifen ergeben sich sozusagen zwangsläufig und von selbst, wenn man Buchstaben in Wachs einritzt oder in Stein meißelt oder in Metall stichelt. So entstanden serifenlose Schriften im Druck auch erst, als die Drucktechnik dies ermöglichte, nämlich mit Einführung des chemischen Druckverfahrens der Lithographie. Da mußten die Buchstaben weder in eine Metallplatte graviert oder geätzt noch mußten Gußformen graviert werden, sondern beliebige Flächen und Linien konnten per Umdruck wiedergegeben werden.
Bezeichnenderweise nannte man serifenlose Schriften in Frankreich von Anfang an „grotesque“, und ohne sich an der eigentlich abwertenden Benennung zu stören, nennt man serifenlose Schriften bis heute als Oberbegriff auch in Deutschland „Groteskschriften“. Mit ihnen verband sich von Anfang an die Anmutung der Modernität, gleichgültig, wie lesbar diese Schriften tatsächlich waren bzw. sind. Große Typographen, vom Expressionismus bis zur Ulmer Schule um Otl Aicher wogten in Orgien von fast unlesbaren Druckwerken in Akzidenz-Grotesk, Neuzeit-Grotesk, Venus, Helvetica, Futura, Univers usw. Insbesondere die Schweizer Typographie hat hier prägend gewirkt und großen Eindruck gemacht durch typographische Gesamtkunstwerke, deren Qualitäten darin bestanden, dem Betrachter ausgewogene oder irgendwie akzentuierte Grauflächen mit herausragenden fetten Schwerpunkten oder originell positionierten Bildern, Überschriften oder Seitenzahlen oder dergleichen zu bieten, die von vermeintlicher Sachlichkeit nur so strotzten, von denen aber niemand zugeben wollte, daß der eigentliche Inhalt, also der Text, in Wirklichkeit sehr schwer zu entziffern war. Manche mögen das auch anders empfunden haben, das ist nicht auszuschließen.
Diesen Nimbus der Modernität haben serifenlose Schriften bis heute, obgleich ihre Erfindung weit über 100 Jahre zurückliegt.
Die Vorstellung, serifenlose Schriften seien lesbarer als Schriften mit Serifen, liegt vielleicht an dem irrigen Umkehrschluß, daß sie für Ungeübte und Kinder (da haben wir wieder das Argument) leichter zu malen sind. Die Buchstaben sind ja rein linear.
Die künftigen Ausgaben des Jahrbuchs der Bayerischen Akademie der Schönen Künste erscheinen übrigens auf besondere Anregung nicht mehr in der Frutiger, einer durchaus sehr schönen serifenlosen Schrift, sondern in einer sehr viel lesefreundlicheren klassischen Druckschrift aus der Renaissance, der Bembo.
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Walter Lachenmann
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