Begleitschaden
Liebe Frau Morin, ich befürchte, daß die Reformer dieses zwar nicht wissentlich angestrebt hatten, es jedoch als Begleitschaden einkalkulierten: Wir wissen ja, es gibt keinen Vorteil ohne Nachteil. Die Reformer waren, zumindest sehe ich es persönlich so, getrieben von einem krankhaften Wahn, sich gegen das „Establishment“ wehren zu müssen, unter dessen Forderungen sie als Kinder und Jugendliche anscheinend gelitten hatten. Das ist ihnen geglückt, vorläufig. Die Haßtiraden gegen Schriftsteller und andere geistige Größen zeigen ja unverhüllt, wem diese Aktion in Wahrheit gegolten hat. Inhaltlich hat man sich darauf konzentriert, Begriffe zu verstümmeln und zu verändern, die eher zum Wortschatz von gebildeten Erwachsenen gehören, nicht von Kindern. Verwirrung also war zu stiften im gesamten Sprachgebäude, unter allen Sprachbenutzern, vorrangig unter jenen, denen Sprache wichtig ist und die gut damit umgehen können. Eine Art Spitzbubenstreich und späte Rache von ehemals sich gedemütigt fühlenden Rebellen.
Wer oder was dabei auf der Strecke bleiben würde, war in diesem Zusammenhang nebensächlich und wurde m.E. auch bewußt in Kauf genommen. Waren die Schüler doch nur Vorwand, und ihre Instrumentalisierung nichts als ein strategischer Winkelzug. In Wahrheit interessierte sich keiner der Reformer für das Wohl der nachfolgenden Generation. Ich will meiner vorsichtigen Hoffnung Ausdruck verleihen: Die von Ihnen, liebe Frau Morin, zitierten negativen Folgen der Reform werden als Kontur aus dem Nebel auftauchen und damit erst dann bewußt wahrgenommen, sobald sich der Pulverdampf des „Rechtschreibklassenkampfes“ verzogen haben wird.
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Karin Pfeiffer-Stolz
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