Noch ein paar Anmerkungen zur Demokratie
Manche Dinge im Leben unterliegen nicht den Regeln der Demokratie. Auch wenn alle meine Nachbarn dafür sein sollten, daß an meinem Haus die Fenster zugenagelt werden, so wäre das damit noch lange nicht legitimiert. Nicht immer ist die Mehrheit maßgebend, und sie ist noch weniger immer im Recht. Den Mehrheiten fehlt nämlich manchmal der Einblick in die Lage der Dinge. Manchmal ist es besser, wenn man von der Sache etwas versteht, über die abgestimmt wird! Mehrheiten können außerdem launisch und wechselhaft sein: sie unterliegen (wie ihre einzelnen Mitglieder auch) Einflüssen von Presse und Gerücht und Mode und anderem mehr. Deshalb wurden bekanntlich Werkzeuge wie die Verfassung oder die indirekte Wahl erfunden.
Noch wachsamer muß man sein, wenn an die Stelle der Demokratie plötzlich die Demoskopie tritt. Selbst wenn man annimmt, daß bei der Erhebung der Daten alles mit rechten Dingen zugegangen ist: wird die Rechtschreibreform dadurch besser oder schlechter, weil mehr oder weniger Menschen zustimmen? Nein, Schrott bleibt Schrott, auch wenn Moos drüber gewachsen ist, und egal, wieviele Leute ihn nicht als solchen wahrnehmen. Natürlich stimmen im Laufe der Zeit mehr Menschen dem ‘Reformierten’ zu, denn wir Durchschittsbürger sind Gewohnheitstiere und vergeßliche dazu. Und die jüngeren unter uns kennen die andere, die eigentliche Schreibweise ja gar nicht mehr.
Die Zeit und die Demokratie arbeiten gegen uns! Ich bin zu weit weg und schon zu lange, ich kann nicht wählen in Deutschland. Aber die von meinen Landsleuten in freier, geheimer, aber indirekter oder gemischter Wahl auserwählten Vertreter stehen schulterzuckend oder sogar zustimmend dabei und sehen zu, wie unsere Sprache verstümmelt wird. Zwar sprechen die Demoskopie und deren Statistiken im Moment angeblich noch für uns, aber das Schielen auf die Zustimmungsraten ist gefährlich. Mit ziemlicher Sicherheit werden die sich im Lauf der Zeit zu unseren Ungunsten entwickeln.
Es freut mich, wenn die Mehrheit genauso denkt wie ich, aber das hat keinen Einfluß auf meine Schreibweise. Mir ist es egal, wie viele andere dafür oder dagegen sind ich schreibe herkömmlich, auch nach diesem und jedem anderen 1. August, der noch folgt. Ich kann auch keine Rücksicht darauf nehmen, daß den Jüngeren an den Schulen etwas anderes gelehrt wird (obwohl diese 'Vergewaltigung' in den Schulen natürlich etwas ganz Unerhörtes ist, aber man kann den Unsinn schließlich nicht aus Sympathie mit den Schülern mitmachen). Ich orientiere mich an den Medien und an der Literatur, die in herkömmlicher Schreibweise verfügbar sind, und mache leise Werbung für sie, solange ich das mit Gewissen und Verstand vereinbaren kann. Darum werde ich nächstes Jahr eben kein Abonnent der ‘Süddeutschen’ mehr sein, sondern wahrscheinlich einer der FAZ.
Das ist die einzige Hoffnung an die Demokratie: denn wenn das viele täten, wäre das auch ein demokratisches Votum, aber eins mit wirtschaftlicher Konsequenz. Der ‘Schmerz’ eines schrumpfenden Leserkreises nämlich könnte in bestimmten Hin-und-Her-Medien möglicherweise einen Gedankenumschwung erzeugen, wirkungsvoller als alle demoskopische Umfragen, Forenbeiträge und Leserbriefe zusammen!
Karl-Heinz Isleif
Tokyo, Japan
|