Kleiner Silvesterscherz zur Zeitenwende
Vor über sechzig Jahren saß ich an meinem Fenster mit Blick auf die Weite der Ostsee und sinnierte über Zeit und Raum. Blitzartig erkannte ich den Widersinn von Zeitreisen und notierte den Einfall. Ein Jahr später wurde er in der Schülerzeitschrift veröffentlicht. Kleine Korrekturen, die nicht mehr in den Druck kamen, habe ich nachgetragen:
Der seltsame Tod des Professors Gerd Grabowitz
Professor Gerd Grabowitz, einer der hervorragendsten Fachleute auf dem Gebiet der Vorgeschichte und insbesondere der Höhlenforschung, reinigte seine Gebißplatte und schob sie in den Gaumen, wo die verbliebenen Eckzähne sie hielten. Seit langem war dies sein schönster Morgen. Tagelang hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen und fieberhaft an der Vollendung einer Apparatur gearbeitet, die, nach den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaft erdacht, mit Hilfe eines sinnreichen Mechanismus etwas bisher für unmöglich gehaltenes bewerkstelligen sollte: die Zeit überwinden und den Forscher aus seiner Gegenwart in vergangene Zeiten versetzen.
Hatte man die Kultur der Eiszeitmenschen bisher nur aus Grabungen und Höhlenfunden gekannt, so wollte Professor Grabowitz nun selbst eine Reise in diese Zeit unternehmen und in leibhaftiger Gestalt Leben und Sitten jener Menschen studieren. Der Wunschtraum aller Geschichtsforscher sollte ihm nun Wirklichkeit werden. Nicht einmal die nächsten Freunde des Gelehrten wußten um seine wahrhaft weltumwälzenden Pläne, und eine Berichterstattung in der Presse hatte er sorglich gemieden.
Ein letztes Mal vor dem großen Ereignis schritt Professor Gerd Grabowitz in andächtiger Sammlung den Weg zur neuentdeckten Höhle am Monte Clamotta, um seine täglichen Grabungen fortzusetzen. Die hohe Felsenhalle in ihrem feierlichen Schweigen war so recht seiner inneren Stille angemessen, denn trotz seiner überragenden Leistungen war er von einer frommen Bescheidenheit. Noch einmal setzte er den Grabspatel an in einer Erde, deren Zeit er bald betreten würde.
Nach kurzer Zeit stieß er nun in die fünfte Schicht vor, die bisher außer geringen Holzkohleresten noch keine Funde erbracht hatte. Doch diesmal schien das Glück ihm hold zu sein, denn kurz darauf brachte er den Oberschenkelknochen eines menschlichen Skeletts ans Tageslicht. Umsichtig und behutsam grub er weiter, bis schließlich sämtliche Teile des Knochengerüstes beisammen lagen. Sie waren von den Menschen jener Epoche sorgsam aufgestapelt worden und – bei näherer Betrachtung konnte man die Nagespuren eines kräftigen Gebisses erkennen. Das geschulte Auge des Gelehrten erkannte sofort, daß es sich hier um das Skelett einer moderneren Rasse handeln mußte, deren erstes Auftreten man bisher in spätere Zeiten verlegt hatte.
Schon wollte er seine Arbeit fortsetzen, als ihm ein kleiner, unansehnlicher Gegenstand auffiel, der aus dem soeben freigelegten Boden hervorragte. Zum großen Erstaunen des Professors erwies er sich als ein silberner Manschettenknopf, den die Jahrtausende mit einer dunklen Patina überzogen hatten. Ratlos ließ Professor Grabowitz seinen Blick über die Gebeine schweifen – und in derselben Sekunde erstarrte er wie gebannt im Anblick des bleichen Schädels: Dieser trug eine Zahnprothese, deren Eckzähne fehlten ... Professor Grabowitz legte den Spaten aus der Hand und nahm die Brille ab.
Mitarbeiter wollen noch gesehen haben, wie der Professor in höchster Erregung in wehendem Mantel den Bergpfad hinuntergeeilt kam und, nicht ansprechbar, sich sogleich in seinem Institutsraum einschloß. Als auch am nächsten Tag kein Lebenszeichen nach außen drang, wurde die Tür aufgebrochen. Man fand keine Spur mehr von ihm und seinem seltsamen Apparat. Manche begannen zu zweifeln, ob es ihn überhaupt gegeben habe.
Geschrieben: Frühjahr 1958, veröffentlicht in „die steinpost“ 20. März 1959.
Guten Rutsch und ein gutes Neues Jahr!
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