Hier mit Antiqua-Lang-s!
(Bei dem folgenden Text handelt es sich weitgehend um eine Kopie meines Beitrages Antiqua versus Fraktur vom 02.04.2003 aus dem Gästebuch Von den Reizen der neuen Rechtschreibung. Ich habe lediglich die als Ersatzschreibung für ein Lang-s der Antiqua dienenden f durch echte Lang-s ersetzt [und entsprechende Erläuterungen gelöscht]; dieses Zeichen ist unter der Nummer 383 [hexadezimal: 017F] verfügbar. Der hiesige Text wird natürlich nur dann richtig angezeigt, wenn Ihr HTML-Interpreter dieses Zeichen kennt. Hier ein Test: »ſ«; aufrecht: »ſ«. Weitere Änderungen dieser Fassung gegenüber dem Original beschränken sich auf Typographisches [Anführungszeichen, Kursivierung], ferner ist der Nachtrag nicht enthalten.)
Antiqua versus Fraktur
(Re: Die gültige ss- Regelung ist nicht schlecht)
R. Menges: Wenn es ein Zurück zur alten Rechtschreibung geben würde und es nach den Vorbildern auf diesen Seiten eine Weiterverfolgung dieser Ziele gäbe, dann müssten auch alle Schulbücher neu geschrieben werden. Ebenso bei einer umfangreichen Neureform. Bei kleineren Renovierungen allerdings würde es Jahrzehnte dauern bis dies wirklich in den Schulbüchern erscheinen würde. Darauf hoffen Sie also, liebe Frau Menges, daß einige kleine Korrekturen ausreichen, um die Probleme zu beseitigen? Daß diese Korrekturen so gering wie möglich sind, so daß »es Jahrzehnte dauern [würde] bis dies wirklich in den Schulbüchern erscheinen würde«? Daß eine neue Kostenlawine vermieden werden kann? Und deshalb tischen Sie jetzt das Thema der s-Laut-Schreibung auf in der Hoffnung, daß, wenn diese bleibt, wie sie ist, die übrigen Änderungen kaum ins Gewicht fallen? Es ist ja klar, daß das Thema ss vs. ß das Wichtigste ist, um die Geringfügigkeit einer Reform der Reform zu gewährleisten. Es ist ja in der Tat eine wichtige und spannende Frage: Soll man die Reform an dieser Stelle korrigieren oder nicht? Wie werden sich die Kultusminister (etc.) entscheiden, was wird die Zwischenstaatliche Kommission ihnen raten?
Ich weiß es nicht. Ich habe meine Meinung an anderer Stelle ausführlich begründet. Sie haben meine Beiträge zu den Problemen der ss/ß-Schreibung ja wohl gelesen, denn Sie sagten von ihnen, sie seien es wert, sich die Zeit zu nehmen, um sie genau zu studieren (vgl. hier). Ich versuche, sie hier aus gegebenem Anlaß zusammenzufassen und sie unter einen neuen Leitgedanken zu stellen. Vergleichen wir also die s-Schreibungsregeln nach Adelung/Gottsched und Heyse, und zwar bezüglich (theoretischer) Regeldefinition, praktischer Anwendung und Lesevorgang.
Zur Theorie: Beide Regeln sind klar, lassen sich relativ kompakt darstellen und sind so konzipiert, daß sie immer ein eindeutiges Ergebnis liefern. Sie verfolgen verschiedene Strategien, die beide als Optimierungsziele einer sinnvollen Rechtschreibung anerkennenswert sind. Hierin nehmen sie sich also nichts, von der Qualität her gesehen. (Mit anderen Worten: Die gültige ss-Regelung ist nicht schlecht. Ja, Frau Menges, bloß ist das nicht alles, worauf es ankommt.)
In der praktischen Anwendung zeigt sich zum einen bei beiden Regeln ein Schwachpunkt, wenn ein Wechsel zwischen »ss« und »ß« eintritt (Heyse: gießen er goss [nicht: goß vgl. groß]; Adelung/Gottsched: Fluß Flüsse [nicht Flüße vgl. Füße]). Hierin nehmen sich die beiden Regeln ebenfalls nichts, denn der Fehler ist in beiden Fällen auf die gleiche Art von mangelndem Verständnis bzw. möglicher Unklarheit zurückzuführen: daß die Verwendung des »ß« auf bestimmte, für die jeweilige Regel charakteristische Fälle beschränkt ist und daß sie mit der gewöhnlichen Konsonantenverdopplung (und bei Heyse auch mit der Stammschreibung) in Konkurrenz steht.
Zum anderen aber macht sich hier das Konzept hinter den Regeln bemerkbar: Im einen Fall (Heyse) hängt der Unterschied zwischen »ss« und »ß« von dem vorausgehenden Selbstlaut (Vokal oder Diphthong) ab, im anderen (Adelung/Gottsched) von der Stellung des s-Lautes innerhalb des Wortes. Ersteres setzt die Beherrschung der der hochsprachlichen Aussprache voraus, letzteres die der Silbentrennung. Eine größere Sicherheit in der Anwendung steht bei letzterem zu vermuten die Zerlegung nach Sprechsilben ist elementarer als die hochsprachliche Aussprache.
Zum dritten ist die Möglichkeit der der Übergeneralisierung zu betrachten, d. h. die Verwechslung mit »s«. Weil die Orientierung an der Aussprache diesbezüglich eine scharfe Trennung zwischen dem »Fall ss bzw. s« und dem »Fall ß bzw. s« erlaubt, die Orientierung an der Silbenzerlegung dagegen zwischen dem »Fall ss« und dem »Fall ß bzw. s«, ist auch hier letzteres von Vorteil.
Zuletzt zum Lesevorgang: Lesen ist Mustererkennung. In Fraktur geschrieben, ergibt sich wegen des Lang-s kaum ein Unterschied in der Lesbarkeit eines Schriftbildes, das der Adelung-/Gottschedschen Regel folgt, im Vergleich zu einem, das der Heyseschen folgt (insbesondere, wenn eine spezielle Lang-s-Rund-s-Ligatur, die kein »ß« ist, verwendet wird; zu sehen etwa bei Poschenrieder in Eroms/Munske, S. 177). In Antiqua sieht es jedoch anders aus im wörtlichen Sinne: Weil die Verwendung des Lang-s nicht mehr üblich ist, ist die logische Zuordnung von mehreren »s« nicht per se klar, sondern bleibt dem Leser überlassen. Dies gilt prinzipiell bei der Verwendung von Antiqua ohne Lang-s und hat noch nichts mit der s-Schreibungsregel zu tun. Es erklärt aber unmittelbar, warum die Heysesche Regel beim Lesen von Antiquatexten einige Schwierigkeiten verursacht: Die vermehrte Verwendung von s-Buchstaben gibt Anlaß zu mehr Uneindeutigkeiten bei Zusammensetzungen (-ssch-, -sst-, -ssp- sowie bei -ss+Vokal), weniger Kontrast (dass ist das ähnlicher als daß) und Dreifach-s (Bsp.: Flussseeschwalbe, Ausschusssitzung; in Fraktur hätte man Fluſsſeeſchwalbe, Ausſchuſsſitzung).
Welche Schwierigkeiten verursacht dagegen die Adelung-/Gottschedsche Regel? Wegen der Verwendung des »ß« in den beiden Funktionen des Scharf-s-Zeichens nach Langvokal/Diphthong sowie als Doppel-s-Ligatur an Stellen, an denen in Fraktur »ſs« bzw. »ſſ« geschrieben würde, bleibt die charakteristische Oberlänge des Lang-s erhalten, welche die logische Zuordnung erleichtert (vgl. die Funktion von Großbuchstaben am Wort- oder Satzanfang: Markierung von logisch/konzeptionell herausstechenden Teilen), und erlaubt ein rasches Erfassen der Struktur des Wortes auch in Zusammensetzungen. Dies hilft, die sich aus der bei der Adelung-/Gottschedschen Schreibweise fehlenden Längenmarkierung ergebende Schwierigkeit bei der Worterkennung zu kompensieren: Wenn man die logische Struktur eines Wortes leichter erfassen kann, kann man es auch schneller/besser erkennen. Wenn man das Wort solches kennt, ist man auf die Längenmarkierung des Vorvokals nicht angewiesen; ein Diphthong bedarf keiner speziellen Markierung, sein Länge ist zudem nicht immer klar (vgl. Lamm Leim lahm; Anne Aue Ähre). Wer ein Wort (noch) nicht kennt, profitiert (bei der Heyseschen Schreibweise) von der Längenmarkierung durch das »ß« insofern, daß er es richtig aussprechen kann, weiß aber trotzdem nicht, was es bedeutet; das eigentliche Problem des Nichterkennens liegt damit woanders. In Antiqua ohne Lang-s wiegen also die Nachteile der Adelung-/Gotschedschen Regel weniger schwer als die der Heyseschen. Fazit: Die Heysesche ist eine gute Regel sie funktioniert bloß in Antiqua nicht so gut wie die Adelung-/Gottschedsche. In Fraktur dagegen geht die Heysesche Regel in Ordnung wegen des Lang-s! Da wir in der Antiqua das Lang-s aber nicht mehr verwenden, bringt die Heysesche Regel mehr Nachteile als Vorteile mit sich. (Ich würde gern wissen, was Herr Schneider aus Marburg dazu zu sagen hat.) Aber was meinen Sie, Frau Menges, wie realistisch Ihre Erwartungshaltung ist, daß es 2005 bei einer kleinen Korrektur bleibt und daß keine »umfangreiche Neureform« erforderlich ist? Als was schätzen Sie denn diesbezüglich den Kompromißvorschlag der DASD ein von dem Prof. Eisenberg selbst gesagt hat, daß er nur 2. Wahl ist und also das eigentlich Richtige, weil Bessere, noch darüber hinausgeht? Gerade bei der ss/ß-Regel windet sich Eisenberg zu offensichtlich mit einer Notargumentation heraus, die durchblicken läßt, daß er genau weiß, was eigentlich dazu zu sagen wäre. Und das mit Recht, denn das, was Sie anführen eine Fehlerverminderung in der s-Laut-Schreibung scheint Illusion zu sein. Schauen Sie noch einmal auf die Ergebnisse der Studie von Prof. Marx:
Sehen Sie, Frau Menges: Die reformierte s-Schreibung ist schlechter als die herkömmliche, weil die Erwartungen nicht erfüllt werden.
Aber selbst wenn die s-Laut-Schreibung nicht korrigiert wird, bleibt genug zu ändern, so daß eine Kleine Lösung nicht in Betracht kommt. Seien Sie realistisch und geben Sie die Hoffnung darauf sofern vorhanden auf.
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Jan-Martin Wagner
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