Lieber Herr Fleischhauer,
wie ich schon oft erklärt habe, ist die Verwechslung von dass und das deshalb mein Lieblingsfehler, weil er die größere Schwierigkeit der neuen ss/ß-Schreibung besonders deutlich macht. Meine Angabe, daß ich bei guten Texten mindestens eine Verzehnfachung dieser Verwechslung feststelle (nach der Reform daß -> dass), beruht auf meiner Tätigkeit als Korrektor seit Anbeginn der Reform sowie auf der Erfahrung aus der Lektüre von reformierten Texten. Die beispielhafte Angabe von 0,3 auf 3 Prozent habe ich jeweils mit vielleicht gekennzeichnet und in Klammern hinzugefügt, daß es (bei solchen Angaben von Größenordnungen) darauf ankomme, wie man gute Schreiber definiert. Ich habe mit diesen beispielhaften Zahlenangaben nur auf Ihre Aufforderung reagiert, ich solle erklären, warum der Journalist dasselbe Wort zehnmal richtig und einmal falsch schreibt, obwohl man da gar nichts erklären kann. Ich wollte Ihre Statistik in einen sinnvolleren Rahmen bringen.
Es geht hier um eine Verwechslung, und es ist ganz selbstverständlich, daß man Verschiedenes leichter unterscheiden kann und entsprechend bei der Auswahl sicherer zugreifen kann, wenn der Unterschied deutlicher ist. (Das ist keine Theorie, egal wie man diese nennen möchte, ob Gestalttheorie oder anders, sondern eine durch allgemeine Lebenserfahrung überall greifbare Tatsache.) Nicht nur der Anblick, sondern vor allem der Tippvorgang ist bei das und dass wesentlich ähnlicher als bei das und daß. Wenn Sie sich dieser Aussage so vorurteilsfrei nähern, wie Sie es von den anderen Diskutanten erbitten, werden Sie das sicherlich feststellen. Somit ist die dauerhafte und deutliche Zunahme dieses Fehlertyps ganz selbstverständlich, wenn man sich nicht Gegenargumente aus den Fingern saugt, wie Sie das über mich und andere behaupten.
Weiterhin ist es auch ganz selbstverständlich, daß man etwas um so besser unterscheiden kann und wiederum bei der Auswahl weniger Fehler macht, je weniger vielfältig die Auswahl ist. Wir haben nach der Reform mit s, ss und ß zu kämpfen, die Schweizer haben jedoch nur zwischen s und ss zu wählen. Somit können sich die Schweizer bei der ss/ß-Schreibung, die bei ihnen einfach eine ss-Schreibung ist, besser darauf konzentrieren, die richtige Auswahl zwischen das und dass zu treffen. Denn es handelt sich um eine grammatische Prüfung, die zusätzlich zu den grundlegenden Anforderungen der jeweiligen ss/ß-Regelung geleistet werden muß, und diese entfallen in der Schweiz komplett. Aus diesem Grund stimmt Ihre Überlegung nicht, in der Schweiz müßte sich dieselbe Fehlerquote zeigen wie (langfristig) in Deutschland.
Der Deutlichkeit halber noch einmal mein Fazit: Bei der Beurteilung der Schwierigkeit der ss/ß-Regelung muß man mehr in Betracht ziehen als die Frage, wie schwierig die Beurteilung von Vokallängen ist bzw. wie sehr sich die Schreiber schon an diese Aufgabe gewöhnt haben. Darin liegt der Irrtum der Reformer und Ihr Irrtum bei Ihrer bisherigen Argumentation. Aber auch darin, daß die Reformer und Sie die Schwierigkeit der Vokallängenprüfung bei der ss/ß-Schreibung unterschätzen. Die Argumente sind hier schon oft formuliert worden.
Übrigens bin ich aus einer rein beruflichen Sicht mit der Neuregelung der ss/ß-Schreibung zufrieden, weil mir die enorme Zunahme der Fehler in diesem Bereich mehr Aufträge einbringt und vor allem das Gefühl, gebraucht zu werden. Man fühlt sich gut, wenn man gebraucht wird, und als Korrektor hat man nach der Reform in diesem Feld sehr viel mehr zu tun als früher. So viel, daß ich persönlich nicht darauf angewiesen bin, auf Statistiken aus dem Jahr 2050 zu warten.
|