Bundestagsprotokolle - gefälscht!
Daß die Protokollanten des Deutschen Bundestages nicht mehr protokollieren dürfen, was die Redner tatsächlich sagen, ist skandalös. (Ist das nicht nicht vielleicht ein weiterer Ansatz, über den man der RSR noch ein wenig beikommen könnte? Dieser Beitrag enthält Informationen, die den Besuchern dieser Website großenteils vertraut sind; ich habe ihn je ein bißchen abgewandelt in den Foren der größeren Parteien gepostet.)
Zwei klitzkleine Beispiele aus dem letzten Protokoll des letzten Bundestages (daß beide Beispiele Vertreter der CDU/CSU betreffen, ist Zufall):
Laut offiziellem Protokoll der 253. Sitzung soll Frau Dr. Angela Merkel dem 14. Deutschen Bundestag am 13. 9. d.J. vorgetragen haben:
»Es ist ausgesprochen problematisch, wenn der irakische Außenminister Nadschi Sabri in diesen Tagen sagt, Deutschlands Veto erfolge im Namen aller Völker, die sich nicht damit abfänden, dass eine Hand voll jüdischer und amerikanischer Gruppen der Welt ihren Willen aufzwingt. Einen solchen Kronzeugen möchte ich für deutsche Politik nicht haben.«
Das hat Frau Dr. Merkel natürlich nicht gesagt! Jeder, der die Rede gehört hat, konnte das ganz deutlich vernehmen! Hätte Frau Dr. Merkel das sagen wollen, was im Protokoll steht, dann hätte sie zwischen Hand und voll eine kurze Sprechpause einlegen müssen. Das aber hat sie natürlich nicht getan, weil sie einen solchen Unsinn nie im Sinn hatte eine Hand voll Gruppen! Sie wollte und das hat sie auch unzweifelhaft getan von einer Handvoll sprechen. Aber das Protokoll verzeichnet es offenkundig falsch!
Sind die hochausgebildeten Protokollanten schlicht und einfach unfähig? Ist Ihnen ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen? Nein, gewiß nicht! Dieser Fehler wurde nahezu mit Sicherheit bewußt und sogar wider besseres Wissen! begangen. (In Protokollen früherer Bundestage findet sich solcher Unsinn nie.)
Schuld daran, daß wir in den Protokollen des Deutschen Bundestages zur Zeit nicht mehr nachlesen können, was die Abgeordneten tatsächlich gesagt haben, ist die unsägliche Rechtschreibreform, die dem Wörtchen Handvoll (und unzähligen anderen) schlicht und einfach das Existenzrecht absprach. In diesem Falle ist das Erraten dessen, was tatsächlich gemeint gewesen sein muß, ziemlich einfach, aber in anderen Fällen führt diese Wortvernichtung durch die Rechtschreibreform, wie der Schriftsteller Reiner Kunze in seiner neuen Denkschrift »Die Aura der Wörter« ausführt, zu völlig mißverständlichen Wendungen. Weshalb? Worin soll der Nutzen einer solchen Reform bestehen? Der Schaden ist klar zu fassen. Gibt es aber auch einen Nutzen? Ich kann keinen sehen. (Es müßte ja ein sogar weit überwiegender Nutzen sein, um eine solche Reform irgendwie zu rechtfertigen; derlei hat aber wohl noch niemand zu belegen vermocht.)
Auch dem bayerischen Ministerpräsidenten wird laut Protokoll dieser Bundestagssitzung unterstellt, etwas gesagt zu haben, was er nicht gesagt hat.
Laut Protokoll:
»CDU/CSU werden in einer neuen Bundesregierung Deutschland zu einem Land machen, in dem es wieder attraktiv und erstrebenswert ist, sich selbstständig zu machen.«
Dr. Stoiber hat hier ganz deutlich selbständig gesagt, nicht selbstständig.
Warum legt ihm das Protokoll ein anderes (und zudem etwas kakophones) Wort sozusagen nachträglich in den Mund? Wieder ist die Rechtschreibreform schuld, die behauptet, selbstständig und selbständig seien das gleiche Wort mit zwei unterschiedlichen Schreibweisen, zwischen denen der Schreiber sich entscheiden könne. Hier hat also das Protokoll sogar ohne Not gefälscht, diese Abweichung vom gesprochenen Wort ist zwar an sich harmloser, aber durch die Rechtschreibreform nicht einmal erzwungen.
Solche Abweichungen vom gesprochenen Wort finden sich genauso auch bei Reden des Bundespräsidenten oder bei im Internet abrufbaren Radionachrichten, etwa beim Deutschlandfunk oder bei der Deutschen Welle. (Die Nachrichtensprecher müssen höllisch aufpassen, falls diese Texte ihnen auch als Manuskript dienen sollten, daß sie NICHT vorlesen, was da steht!)
Mir erscheint das alles als irritierend, manchmal als störend, immer wieder einmal als ärgerlich. Geradezu wütend macht es mich aber, daß ein solch vielfältig entstelltes Deutsch Kindern beigebracht wird, denen es dadurch systematisch verwehrt wird, die Aura der Wörter ihrer Muttersprache überhaupt kennenzulernen. Zu den Menschen, die dies zu verantworten auf sich genommen haben, und die z.B. Brechts Mutter Courage wegen der beibehaltenen Rechtschreibung für Schullektüre als nicht mehr tragbar eingestuft haben, schreibt Reiner Kunze, daß sie um der reinen Lehre willen die Taliban übertrumpften.
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Dr. Wolfgang Scheuermann
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