Manöverkritik
Daß man jeden schriftlichen Leerschritt als Sprechpause hören müßte, halte ich für eine etwas problematische Behauptung. Auch daß selbstständig aufgeschrieben wird, obwohl nicht wirklich so ausgesprochen wurde, kann man schwerlich als sinnverfälschend anklagen. Auf dieser Ebene die Reform zu kritisieren, führt letztendlich zu unhaltbaren Positionen. Die Redeprotokolle verzeichnen schließlich auch nicht jede Abschleifung und jedes Nuscheln. Viele Leute sagen Kunstoff (bzw. Kunschtoff) zu Kunststoff. Oder nich statt nicht usw. Entscheidend ist doch vielmehr, daß die vermehrte Getrenntschreibung Sinnzusammenhänge nicht mehr so augenfällig darstellt. Das zwingt zwar nur im recht seltenen Extremfall tatsächlich zum Raten über das Gemeinte, dieser Fall kommt aber dennoch eben auch vor; man kann eine Rechtschreibänderung mit solchen Merkmalen schon zu Recht als mangelhaft bezeichnen. Die syntaktischen Beziehungen sind nicht mehr so lesekomfortabel verschriftet. Natürlich muß jedem klar sein, der kurz über den Inhalt eines Satzes mit Hand voll nachdenkt, in dem eigentlich Handvoll gemeint ist, daß hier von keiner konkreten Hand die Rede ist (selbst wenn gar nicht geredet wird, sondern das nur geschrieben steht). Es steht wohl kaum zu befürchten, daß jemand, der diese Redepassage Angela Merkels liest, glaubt, da gehe es um eine Hand, die die Welt bedrohe, und diese Hand sei voll Interessen (kann man die überhaupt greifen?) usw. Daher ist es unangemessen, von einer Fälschung zu sprechen, denn eine Fälschung ist erst dann eine Fälschung, wenn sie von sich aus zur Täuschung geeignet ist (wie bei einem gefälschten Geldschein oder Gemälde, der/das für echt gehalten wird). Man kann höchstens von einer Verfälschung sprechen, doch auch das ist noch etwas schrill. Treffender wäre es, die Sache als Lesehindernis zu bezeichnen. Das Problem bei Hand voll entsteht ja eigentlich dadurch, daß es Handvoll bereits gegeben hat bzw. gibt, und ein Kenner dieses Wortes der Getrenntschreibung reflexartig einen besonderen Grund beimißt. Sprachentwicklung sollte eben nicht rückgängig gemacht werden. Rückgängigmachung der Rückgängigmachung wäre dagegen wieder ein Fortschritt (noch mal für die liebe Frau Dr. Menges, die diese Erkenntnis erstaunlich hartnäckig verweigert, muß ich schon sagen).
Man tut der so berechtigten wie notwendigen Widerstandsbewegung gegen die sogenannte Reform mit überzogenen Vorwürfen aber keinen Gefallen. Der psychologische Effekt einer beispielig ausgewählten Redepassage, die sich mit (vermeintlich) antijüdischen bzw. antiamerikanischen Attitüden auseinandersetzt gesellschaftlich schon für sich genommen sehr schwierige Angelegenheiten , ist nämlich der mehr oder weniger unterschwellige Eindruck, es solle damit behauptet werden, Aussagen dieses Themenkreises würden durch die Neuschreibungen brisantest verfälscht, was hier aber natürlich nicht der Fall ist. Aus einem ähnlichen Grund halte ich die Verwendung des Begriffs Taliban in der Überschrift von Herrn Genzmanns Frustexplosion für unangebracht; so schlimmen Quatsch die KMK auch im Laufe der Jahre verbrochen haben mag, es ist völlig absurd, im Umkehrschluß geradezu brutal verharmlosend, die Truppe auch nur in Sichtweite zu dem afghanischen Schreckensregime zu rücken, eigentlich BILD-Niveau. Genau diese zweifelhaften Beispiele und Kampfbegriffe sind es dann, die von den Reformbefürwortern herausgepickt werden, um die Reformkritiker als kleinkarierte Aufbauscher hinzustellen. Man braucht die Reform jedoch nur an dem Anspruch zu messen, mit dem ihre Verantwortlichen selbst sie antreten lassen, um zu einem vernichtenden Urteil über sie zu kommen: Weder läßt sich eine Vereinfachung oder Begünstigung sinkender Fehlerquoten bzw. der Lernbarkeit nachweisen, noch ist die modifizierte Rechtschreibung systematischer als die bisherige. Nachweisen läßt sich vielmehr das Gegenteil. Dann kommen die semantisch-kommunikativ gelagerten Mängel und grammatischen Inkompatibilitäten noch hinzu. Aber mit solchen Kleinigkeiten wie angeblich fehlenden Sprechpausen in Bundestagsreden muß man sich doch eigentlich nicht abgeben. Das setzt an einer ungünstigen Stelle an. Warum mit der Stecknadel kämpfen, wenn man ein riesiges Schwert, ja ein ganzes Waffenarsenal hat?
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