Re: Liebgewonnene Schreibweisen
(Nachtrag: Auf Anregung von Herrn Schubert habe ich nachträglich Abschnittsnumerierungen eingefügt, die sich auf die Absätze seines Beitrages beziehen, auf den ich hier eingehe.)
(I) Zitat: Ursprünglich eingetragen von Peter Schubert
Sehr geehrter Herr Wagner, wir waren schon einmal weiter als Sie in Ihrem Beitrag vom 5. Mai, 17.06 Uhr. Wir waren uns schon darüber einig geworden, dass im Deutschen bei jeder Silbe feststeht, ob sie lang oder kurz ist. Jetzt kündigen Sie diese Einigkeit auf und kommen mit dem nicht sehr überzeugenden Beispiel aua und, in Übereinstimmung mit Frau Philburn, mit dialektalen Abweichungen, und Sie sehen dabei ein Problem.
Wie schön, daß ich mir in Anbetracht Ihres wiederholten Ignorierens von innerlich und äußerlich jeden Kommentar dazu sparen kann, warum wir wie weit sind einzig interessant dabei ist, in welche Richtung wir schon wie weit gekommen sind...
Aber konkret: Ich wage Ihrer Feststellung zu widersprechen, daß wir uns schon darüber einig geworden waren, daß im Deutschen bei jeder Silbe feststeht, ob sie lang oder kurz ist. Ich hatte geschrieben: »Bestreiten Sie, dass im Hochdeutschen für jede Silbe festgelegt ist, ob sie lang oder kurz ist?«
Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, daher kann es sich durchaus um ein falsches Urteil handeln, wenn ich sage: Nein, das bestreite ich nicht; ich gehe davon aus, daß es in der Hochsprache einen Standard bezüglich der Silbenlänge (bzw. -kürze) gibt.
(Antworten und neue Fragen [in: ss vs. ß], 24.03.2003) Die Silbenlänge (bzw. -kürze) ist ein dehnbarer Begriff in meinen Augen läßt er mehr zu als nur die Unterscheidung nach genau zwei Fällen. Wie ich an anderer Stelle erwähnte, gibt es durchaus Silben, die nicht in das einfache lang/kurz-Schema passen: Lamm/Leim/lahm. Sie sehen, ich habe nichts aufgekündigt, sondern meine vagen Aussagen präzisiert. Das Thema der dialektalen Abweichungen ist zudem nicht neu, Sie hatten bloß vor ein paar Wochen, als sich ein von Ihnen so genannter Fachleut in die Diskussion einschaltete, kein Interesse mehr, sie fortzusetzen (es ging damals um »Das ü in Schüssel«).
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(II) P. Schubert:
Ein Problem sehe ich auch dabei nicht. Wenn ein Schüler in einer schriftlichen Arbeit eine regionale Variante verwendet, die in einem nicht ganz unbedeutenden Wörterbuch verzeichnet ist (Geschoß" lt. Duden), dann hat der Rotstift Ruhe zu bewahren, egal, aus welcher Region der Schüler oder der Lehrer kommt und in welcher Region die Arbeit geschrieben wird. Korrektoren und Zensoren müssen eben auch manchmal nachschlagen. Hierzu möchte ich in die Runde fragen: Entspricht das der Praxis vor der Rechtschreibreform? Es würde mich wundern; wozu denn wird in dem nicht ganz unbedeutenden Wörterbuch speziell und genau vermerkt, daß bestimmte Schreibweisen nur in bestimmten Regionen/Ländern anzutreffen sind? Und speziell im Fall des Geschoß würde ich mir keine Illusionen machen, daß dies bei einer in einer deutschen Schule angefertigten schriftlichen Arbeit nicht als Fehler gewertet würde.
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(III) P. Schubert:
Offenbar sehen auch Sie mehrere Arten von Eszetts. Das ist nicht richtig. Ich habe lediglich gesagt, daß unser heutiges ß rein typographisch verschiedene Ursprünge hat, aber über seine jeweilige Funktion hatte ich bislang nichts gesagt; darüber weiß ich zu wenig. Ich sehe zwei Funktionen, die das Zeichen "ß" hat, und die es dort, wo es steht, immer hat. Daher bin ich mit der Bezeichnung mehrere Arten von Eszetts nicht einverstanden.
P. Schubert:
Noch einmal meine Unterscheidung von echtem und unechtem Eszett: Das echte signalisiert ausnahmslos, dass der Zischlaut stimmlos ist und dass davor ein langer Vokal oder ein Diphthong ist. Man schreibt also Grüße und außer. In diesen Fällen ist das Eszett zwar nicht unverzichtbar (die Schweizer kommen ja auch ganz gut ohne aus), aber sehr sinnvoll; die Aussprache des Wortes ist eindeutig erkennbar. Ich wage zu behaupten, daß die Schweizer mit dem ß an diesen Stellen (wegen des zuvor diskutierten Prinzips der Verdopplung des Konsonantenbuchstabens nach kurzen betonten Vokalen) wesentlich besser dran wären und man sich also an der Schweizer Schreibweise kein Beispiel nehmen sollte, wenn man bestrebt ist, herauszufinden, was die sinnvollste Variante der s-Schreibung ist. Das Schweizer Beispiel zeigt m. E., daß es zwar im Notfall auch ohne ß gehen würde, aber es zeigt auch, daß es eben der schlechtestmögliche Fall ist.
Ich frage mich, warum das Eszett an dieser Stelle signalisiert, daß ein Diphthong vorausgeht wenn da ein Diphthong steht, erkenne ich das bereits, bevor ich das "ß" lese. Rein theoretisch können natürlich bei einer Wortzusammensetzung zufällig Vokalbuchstaben zusammenstoßen, die (rein formal) einen Diphthong bilden, aber ist das in der Praxis relevant? Meines Erachtens zeigt sich hier vielmehr die konsequente Anwendung des Eszetts gemäß seiner beiden Funktionen: Ein Eszett steht a) für einen scharfen s-Laut, der b) nur genau einer Silbe zugeordnet ist. Bei den von Ihnen genannten Beispielen Grüße und außer steht es jeweils als Silbenanlaut, es kann aber auch im Innenlaut (gestreßt, heißt, mußt) oder Auslaut (daß, Fuß, Mißerfolg, Mißstand, mißlich, scheußlich) auftreten.
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(IV) P. Schubert:
Das unechte Eszett steht nach kurzem Vokal dort, wo in der Fraktur oder der deutschen Handschrift keine zwei langen s und auch keine zwei runden s stehen dürfen. Daß in Fraktur keine zwei runden s direkt nebeneinander stehen können, ist klar; was aber meinen Sie mit dem Fall, daß keine zwei langen s stehen dürfen? Mit fällt dazu nur das Wortende ein, bei dem das letzte s rund wird, so daß ein Lang- und ein Rund-s unmittelbar nebeneinander stehen.
P. Schubert:
Hier ist das Eszett eine Verlegenheitslösung. Das stimmt nur, wenn man von vornherein Ihre Auffassung vom echten Eszett zugrundelegt; nur dann kommt man zu der Einschätzung, daß hier ein Eszett als Ersatz für etwas einspringen muß, für das es nicht gedacht ist. Das stimmt aber nicht. Hier handelt es sich um einen der anderen typographischen Ursprünge des Zeichens "ß" den Fall der Doppel-s-Ligatur. Das gilt nicht nur für die Fraktur, sondern auch für die Antiqua, in der es ebenfalls die lange Form des s gab.
Diese typographische Form des ß gehört gerade an eine solche Stelle, und das Eszett ist deshalb an dieser Stelle genauso echt wie an der zuvor beschriebenen. Zudem ist in Fraktur der Unterschied zwischen einer Ligatur aus Lang-s und Rund-s und einer aus Lang-s und z nicht allzu groß, so daß es naheliegend ist, in beiden Fällen das gleiche Zeichen zu verwenden (die entsprechenden hierin enthaltenen Verweise auf das alte Rechtschreibforum funktionieren zwar derzeit nicht, jedoch gibt es hier [hoffentlich vollständige] Kopien der entsprechenden Beiträge).
P. Schubert:
Sie [die Verlegenheitslösung] ist obsolet, seitdem kaum noch in Fraktur oder deutscher Handschrift geschrieben wird. Und wer doch noch lieber Fraktur oder deutsch schreibt, kann es ja tun. Es stimmt zwar, daß sich das Problem, aufeinanderfolgendes Lang-s und Rund-s bzw. Lang-s und normales z richtig zu verarzten, heutzutage nicht mehr stellt, weil das Lang-s (leider!) nicht mehr in Gebrauch ist. Der Hintergrund aber, der die Unterscheidung zwischen Lang- und Rund-s sinnvoll macht, nämlich die besondere Kennzeichnung des s am Silbenende zwecks besserer Lesbarkeit von Zusammensetzungen, ist nach wie vor gegeben.
Es mag zwar sein, daß dieses Problem heutzutage kaum noch wahrgenommen wird, was aber m. E. hauptsächlich daran liegt, daß bis vor der Rechtschreibreform das Eszett dafür gesorgt hat, daß dieses Problem gar nicht erst auftrat. Das mag eine Erklärung dafür liefern, daß manche, die nun von der Heyseschen Regel angetan sind, als Besonderheit des Eszetts nur noch seine Funktion wahrnehmen, das scharfe s im Silbenanlaut anzuzeigen, wenn die vorhergehende Silbe nicht auf einen Konsonanten endet was sicherlich eine wichtige Aufgabe ist, aber es ist nicht die einzige! (Mir sind nur zwei Fälle eingefallen, in denen eine mit einem scharfen s anlautende Silbe auf eine konsonantisch auslautende folgt: Wörter vom Typ Wasser oder vom Typ Haxe.)
Wie oben gezeigt, fügt sich diese Aufgabe nahtlos in die allgemeine Funktionsbeschreibung des Eszetts ein, und durch dieselben allgemeinen Funktionen des Eszetts wird das Problem der Silbenrandmarkierung (sowie partiell das der Dreifachbuchstaben, s. u.) gelöst (Ausschusssitzung vs. Ausschußsitzung; Bambusessstäbchen vs. Bambuseßstäbchen; bisschen vs. bißchen; Fresstempel vs. Freßtempel; Messergebnis vs. Meßergebnis; Schlossparkett vs. Schloßparkett). Das ist doch einfach genial: Mittels genau eines Zeichens ("ß") werden auf einen Schlag orthographische, typographische, ästhetische und lesetechnsche Schwierigkeiten systematisch ausgeräumt. Zeigen Sie mir einen anderen Buchstaben/eine andere Schreibweise, der/die so viele Vorteile in sich vereint (und dabei nur, wie es hier der Fall ist, geringfügige Nachteile mit sich bringt).
P. Schubert:
Der Reformduden (22. Aufl. S. 101) empfiehlt für das unechte Eszett die Kombination von lang s + rund s, wofür es übrigens auch in Antiquaschriften des 19. Jh. Vorbilder gibt. Diese Empfehlung bezieht sich ausdrücklich auf die Rechtschreibreform; sie war in der 20. Auflage (1991) nicht enthalten (S. 74). Dort findet sich unter a) Das lange s das Beispiel Abszeß in Fraktur mit einer s-z-Ligatur am Schluß. Im 2000er Duden steht (hier mit f für das lange s zitiert): »[...] Doppel-s im Auslaut sollte im Fraktursatz aus ästhetischen Gründen mit fs wiedergegeben werden.« Dem kann ich keinen Glauben schenken, denn zum einen war es jahrelang kein Problem (weder ein orthographisches noch ein ästhetisches), an dieser Stelle das Fraktur-ß zu verwenden, und zum anderen sah Heyse selbst »aus ästhetischen und systematischen Gründen« für die Folge f+s eine eigene Ligatur vor (zitiert nach: Th. Poschenrieder: S-Schreibung Überlieferung oder Reform?, in Die Rechtschreibreform Pro und Kontra, hrsg. von H.-W. Eroms und H. H. Munske, hier: S. 177).
P. Schubert:
Die reformierte s-Schreibung besteht ausschließlich darin, dass das unechte Eszett durch Doppel-s ersetzt wird. Das ist schon klar, aber das sagt nichts darüber aus, ob und warum das wirklich sinnvoll ist, denn es ist eine reine Fallbeschreibung. Warum sollte man diese Ersetzung machen?
P. Schubert:
Davon geht die Welt nicht unter. Das war nix. Läuft Ihre Auffassung von einem echten Eszett (grob skizziert) darauf hinaus, daß in Wörtern wie Straße, außer nur die Anwendung einer s-z-Ligatur sinnvoll ist und man also erwarten dürfte, daß in der Vergangenheit (besser: in etwa vor der Etablierung der Adelung/Gottschedschen Regel) an dieser Stelle keine Doppel-s-Ligatur verwendet wurde, weder in Fraktur noch in Antiqua? Das spricht den Fall an, um den es in meinem Verständnis der Geschichte des ß am schlechtesten bestellt ist. Ich hatte in diesem Forum bereits vor einiger Zeit nach näheren Informationen dazu gefragt, aber keine Antwort bekommen; und ich war bislang zu beschäftigt, auf eigene Faust Nachforschungen (etwa in der Bibliothek) anzustellen. Darüber würde ich weiterhin gern Genaueres wissen, auch, um in der Diskussion um das echte/unechte Eszett voranzukommen. Interessant ist dabei auch, warum als Ersatz in allen Fällen ein Doppel-s geschrieben werden soll und nicht sz (was in ungarischen Texten für den scharfen s-Laut steht).
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(V) P. Schubert:
Noch ein Wort zum Kompromissvorschlag der DASD: Mit Verlaub, mit welcher Intention haben Sie hier Anführungszweichen verwendet? Als Zitat oder als Andeutung von Zweifel? Da im Originaltitel ein "ß" steht, tendiere ich dazu, Ihnen letzteres zu unterstellen...
P. Schubert:
Der dortige Vorschlag (S. 13), es bei der Heyseschen Schreibung zu belassen, aber zur Vermeidung von drei s bei Missstand und Stresssituation doch ein ß + s zuzulassen, ist albern. Die Heysesche Schreibung bringt es zwangsläufig mit sich, dass drei s auftreten können. Wie ich bereits anderenorts geschrieben habe, stellen sich diese drei s in Fraktur ganz anders dar als in lang-s-loser Antiqua. Die Heysesche Schreibung wurde für Fraktur konzipiert, wo die Abfolge Lang-sRund-sLang-s keine Leseprobleme bereitet. Ein dreifaches Rund-s ist dagegen wie jeder dreifach gesetzte Buchstabe ein Lesehemmnis. Die partielle Ersetzung durch ein Eszett ist daher sehr sinnvoll und wirkt nur deshalb albern, weil der DASD-Vorschlag damit in sich inkonsistent wird. Die Begründung dafür ist in der Tat albern mehr noch: Sie ist eine Veralberung des Lesers. Die gesamte Passage lautet: 1. ß. Die Ersetzung des ß nach Kurzvokalbuchstaben durch ss ist weder systematisch geboten noch ist sie unproblematisch, was das Schreibenlernen betrifft. Sie führt nachweislich dazu, daß die Schüler dazu neigen, nur noch ss zu schreiben. Es finden sich vermehrt Schreibungen vom Typ Landstrasse, Blumenstrauss, d. h. hier tritt ein neuer Rechtschreibfehler auf. Andererseits ist die Ersetzung des ß durch ss gewissermaßen das Herzstück der Reform, sie ist ihr sichtbarster Bestandteil und im großen und ganzen folgerichtig. Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft. Das Umgekehrte gilt ebenfalls. Im Interesse einer Beilegung des Streites, zugunsten einer Wiederherstellung des »Rechtschreibfriedens« wird vorgeschlagen, die Änderung zu übernehmen. Es soll nur eine Ausnahme erlaubt sein: in Fällen, wo auf eine mit ss auslaufende Silbe eine andere folgt, die mit s beginnt, kann zur Vermeidung einer Verdreifachung dieses Buchstabens ß geschrieben werden (z. B. Mißstand statt Missstand, Streßsituation statt Stresssituation, vgl. 2). Das als vorauseilenden Gehorsam zu bezeichnen, wäre noch viel zu milde ausgedrückt; Feigheit vor dem Feind träfe es schon eher, und noch ganz andere Begriffe könnten passend erscheinen was für eine Versuchung, mal so richtig abzukotzen! Aber letztlich ist hier jedes Wort überflüssig und vergeudet, denn die Krönung der Albernheit des DASD-Kompromißvorschlages ist, daß seine Autoren ihren eigenen Vorschlag nicht ernstnehmen und durchgängig die herkömmliche (Adelung/Gottschedsche) s-Schreibung verwenden. Was sagt das darüber, was die Experten selbst von ihrem Vorschlag halten?
P. Schubert:
Auch in der alten Rechtschreibung kamen drei gleiche Konsonanten hintereinander vor: SCHLOSSSTRASSE, Sauerstoffflasche, Balletttruppe, Schiff-fahrt. Das letzte ist ein Beispiel für eine Trennung, nicht wahr? Und damit ist auch klar, daß das nichts Überraschendes oder Ungewöhnliches ist, ergibt sich doch das Aufeinandertreffen dreier gleicher Buchstaben ganz zwangsläufig bei Wortzusammensetzungen. Daß in der herkömmlichen Rechtschreibung in den hier angesprochenen Fällen alle Konsonantenbuchstaben geschrieben werden (bzw. ein weggelassener bei der Trennung wieder eingefügt wird), ergibt sich m. E. daraus, daß keine Leseerleichterung resultiert, wenn man einen Buchstaben wegläßt, oder daß sogar eine falsche Lesart möglich wird (Kunststofflasche vs. Kunststoffflasche).
P. Schubert:
Auch davon ging die Welt nicht unter. Das war wieder nix.
– geändert durch J.-M. Wagner am 18.05.2003, 10.47 –
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Jan-Martin Wagner
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