Orthographische Blütenlese
In diesen Tagen stieß ich auf einen Aufsatz, den Ludwig Bieler 1949 in Band 2 der Zeitschrift 'Lexis' veröffentlicht hatte. Ich staunte nicht schlecht, darin die jetzt von den Reformern wieder ausgegrabene ss/ß-Schreibung vorzufinden, also etwa muss und bloß". Zur Erklärung: Bieler war Österreicher. Er war 1906 in Wien geboren, floh vor den Nationalsozialisten nach Irland und starb 1981 in Dublin. Trotzdem ist bemerkenswert, daß er als Nachgeborener sich der vor 1900 einmal in Österreich verordneten Schulschreibung befleißigte, zumal die Zeitschrift 'Lexis' im badischen Lahr verlegt wurde.
Anders verfuhr der 1845 in Speyer geborene Philologe Wilhelm Meyer. Er publicirte bis zu seinem Tode 1917 in der ihm seit Jahrzehnten vertrauten Rechtschreibung. Er blieb also bei That, Waare, componiren usw., übrigens immer auch bei Rythmus. Meyer galt (und gilt noch) als eine Koryphäe seines Fachgebietes: wer hätte ihn belehren wollen?
Wieder anders beweist ein Gymnasiallehrer Charakter, mit dem ich mich vor einigen Tagen unterhielt. Als Spätberufener sitzt er noch an seiner Dissertation, die er, für ihn selbstverständlich, in bewährter Rechtschreibung verfaßt. Über das orthographische Tohuwabohu, das durch die Reform an den Schulen entstanden ist, schüttelt er nur den Kopf: Es geht alles durcheinander. Man weiß gar nicht, wo man noch zu korrigieren anfangen soll. Doch was soll das Urteil eines Praktikers, wenn die kultusministerielle Propaganda und ihre Hilfsschranzen trompeten: Problemlos in den Schulen eingeführt!
Journalismus sei ein Charakterfehler, hat bekanntlich Karl Kraus behauptet. Recht hat er gehabt, der Grantler. Ihren Bericht über eine Ausstellung mittelalterlicher Buchkunst in Köln eröffnete eine Christiane Hoffmans in der 'Welt am Sonntag' vom 9. August 1998 mit diesen Worten: Großes Gezeter hat in den letzten Jahren in den deutschsprachigen Ländern eingesetzt: Die mißratene Rechtschreibreform ist in aller Munde. Ein Buch wie 'De orthographia' (Über die Rechtschreibung) könnte da Abhilfe schaffen wäre es nicht über 1000 Jahre alt. Sein Verfasser, der Mönch Alkuin, leitete die Hofschule Karls des Großen in Aachen, und ihm oblag es, am Ende des 8. Jahrhunderts nicht nur eine neue Rechtschreibung einzuführen, sondern überhaupt eine neue Schrift mit ganz neuen Regeln.
Ich erspare es mir, das armselige, von behaglichem Irrsinn überwucherte Geschreibsel zu zerpflücken. Zu Alkuins neuer Rechtschreibung sei nur soviel gesagt: Karl der Große leitete in seinem Reich eine Bildungsreform ein, die man bisweilen auch als Bildungsrenaissance bezeichnet. Damals war das Lateinische nahezu die einzige Literatursprache; aber in vorkarolingischer merowingischer Zeit war es, da es so gut wie keine Schulen gab, aller Regeln verlustig gegangen. Davon waren Orthographie und Grammatik in gleicher Weise betroffen. Die grammatikalischen Kategorien purzelten hilflos durcheinander, und die Autoren rangen sich ihre kleinen Werke ab, so gut ihnen eben möglich war. Unter Karl wurde der sprachliche Wildwuchs bekämpft; man knüpfte man an die alten, in den antiken Texten überlieferten und von den römischen Grammatikern gelehrten Regeln wieder an. Darum ging es Alkuin und seinen Mitstreitern, und nicht etwa darum, auf Kosten einer vorhandenen tadellosen, allseits gebräuchlichen Rechtschreibung eine neue einzuführen. Aber die scheinbare Parallele war 1998 auch allzu billig zu haben. Und da wäre ich wieder bei Karl Kraus.
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Heinz Erich Stiene
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