Re: Angst
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Wolfgang Scheuermann
Was sind wohl die Hauptgründe dafür, daß unsere Politiker den Mut zur Zurücknahme der Rechtschreibreform (RSR) nicht aufbringen?
Ich möchte darauf in umgekehrter Reihenfolge eingehen:
Zitat: 2. Geld und Schul(d)en
In einer Zeit, in der man ständig von drückenden Schulden redet, wird der Politiker davor zurückscheuen, durch die Forderung der Zurücknahme der RSR sich der Kritik auszusetzen, er verschleudere Steuergelder. Jetzt müßten ja die Schulbücher schon wieder neu gedruckt werden! Außerdem sei die Regelung des ß jetzt doch endlich einmal logisch warum sollte man das aufgeben?
Diese Problembeschreibung weist auf den allgemeinen Gang der Dinge hin, die im Zweifelsfall den Weg des geringsten Widerstandes nehmen. Anders ausgedrückt: Wo es den lautesten Aufschrei geben wird, wird man nicht langgehen, d. h. man wird nichts unternehmen, das den Interessen der großen Verlagshäuser (insbesondere von Wörterbüchern) etc. zuwiderläuft oder was (zu)viel Geld zu kosten droht.
Zitat: Nötig ist freilich das Bekenntnis, die Politik habe einen Fehler gemacht. Aber das kostet nichts.
Das Bekenntnis, einen Fehler gemacht zu haben, dürfte leichter fallen, wenn man einen Sündenbock benennen kann, von dem man in die Irre geführt wurde, so daß einen selber nur geringe Schuld trifft. Im Gegenteil: Wenn es die Politiker geschickt anstellen, können sie sich dabei noch als Retter in der Not profilieren. Sollte nämlich eine unabhängige Untersuchung der Reform ergeben, daß es eben doch massive Probleme mit dem neuen Regelwerk gibt, ist klar, daß die bisherigen Entscheidungen seitens der Politiker auf falschen Informationen beruhen, und entsprechend müßte dann einiges korrigiert werden.
Das Problem dabei scheint mir zu sein, wie ernst die Ergebnisse solcher Untersuchungen von den Politikern letztlich genommen werden. Da es verschiedene Untersuchungen gibt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, können diese als Meinung (der jeweiligen Untersuchenden) aufgefaßt werden. Wie aber bringt man die Politiker dazu, bestimmte Dinge als objektiv zutreffend bzw. unzutreffend anzuerkennen? Dazu:
Zitat: 1. Uninformiertheit und Desinformation
[...] Also läßt er sich informieren. Von wem? Von einer möglichst amtlich wirkenden Seite, auf keinen Fall von Einzelpersonen, die zu der Frage schon eindeutig Stellung bezogen haben da wird man ja evtl. in Zusammenhang mit Sektierern gebracht. Besser sind Institute, öffentlich eingesetzte Kommissionen am besten läßt man sich informieren vom Institut für Deutsche Sprache, das klingt gut und neutral; außerdem bekommt das Institut viele Forschungsgelder, also sind dort gute Leute wer sich vom IDS beraten hat lassen, kann auch nur sehr schwer angegriffen werden. Also wird die wahrscheinliche Informationsquelle das IDS in Mannheim sein. (Man wird sich dort solchen Politikeranfragen auch nicht verschließen und so wird unser Politiker nun objektiv desinformiert.)
Kann man jetzt noch irgendwie an ihn herankommen? Das ist kaum vorstellbar er ist jetzt beratungsresistent.
Lösung: Keine. Erforderlich ist eine übergreifende Strategie.
Ich schlage folgenden Ansatz vor: Man sollte nach Dingen fragen, die nicht im dritten Bericht stehen, so daß es dazu noch keine Textbausteine gibt (vgl. Textbausteine aus München im Strang FDS). Oder man fragt nach Dingen, die im dritten Bericht stehen, aber von denen man annehmen kann, daß die Politiker sie nicht zur Kenntnis genommen haben (was beim Umfang des Berichtes keine abwegige Annahme sein dürfte). Bei solchen Anfragen sollte man darauf achten und gegebenenfalls darauf bestehen, daß die Antwort wirklich von dem bzw. der Gefragten persönlich gegeben wird und nicht von einer vorgeordneten Stelle.
Zitat: Der allergrößte Teil der Politiker hat sich, dessen bin ich mir sicher, nicht eingehend genug mit der RSR befaßt, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Es gibt Wichtigeres! Dieser zentrale Satz der Desinformationskampagne der RSR-Befürworter verängstigt auch Politiker: Warum sollte er sich intensiv mit dem Thema befassen, wenn er doch damit rechnen muß, daß er von seinen Parteifreunden, von der Presse etc. gefragt werden wird: Sagen Sie mal, was Wichtigers haben Sie wohl nicht zu tun?!
Es gibt noch andere Gründe, sich nicht damit zu befassen: Warum sollte man sich mit etwas auseinandersetzen, bei dem kein politischer Profit zu holen ist? Was Heide Kuhlmann bezüglich des Zustandes vor der Reform formuliert hat, muß, wenn es richtig ist, jetzt genauso gelten (S. 14, zu Beginn des Abschnittes Evolution oder Revolution? Von der Entstehung, Entwicklung und Verbreitung sprachlicher Normen"): »Die Kritik eines Ist-Zustandes und das Entwerfen eines Soll-Zustandes setzen die Beschäftigung mit der Entstehung der Situation voraus. Das schließt die Suche nach den Verantwortlichen für die zu verändernde Lage und die nach ihren Nutznießern ein, ebenso die Annahme, es gäbe Menschen, die durch den vorreformatorischen Zustand benachteiligt seien. Der Motor für jeglichen Fortschritt ist Unzufriedenheit mit dem, was ist und die Überzeugung, eine Verbesserung sei erreichbar.« Dazu paßt insofern folgende Antwort, die ich von Herrn Dr. Holzem von der NRW-CDU bekam, als daß er die komplementäre Situation schildert (Brief vom 28.07.2003): »Nach telefonischer Anfrage bei meinen Kollegen in den einzelnen Bundesländern herrscht momentan die Meinung vor, dass aufgrund der letzten Pressemeldungen zum Thema Rechtschreibreform und des politischen Sachstandes zur Zeit kein weiterer Handlungsbedarf zu erkennen ist.
Wir werden versuchen am Rande der nächsten Sprechertagung über weitere Initiativen zu beraten. Nach meinem Eindruck sehen auch die anderen Fraktionen derzeit keinen weiteren Beratungsbedarf.« Mein Vorschlag: Entsprechend der jeweiligen Couleur der Politiker sollte ihnen aufgezeigt werden, was an der Reform ihren Grundüberzeugungen widerspricht; ich vermute, daß man dazu für beide Enden des politischen Spektrums passende Argumente finden kann. Auf jeden Fall sollte (auch wiederholt) darauf hingewiesen werden, daß die Reform allein deshalb in die falsche Richtung ging, weil sie (i) eine Spaltung der Orthographie bewirkt hat, bei der man (ii) nicht davon ausgehen kann, daß sie im Laufe der Zeit von selbst überwunden wird.
Zu (i): Problematisch ist dabei, daß die Bedeutung dieses Aspektes leicht verkannt wird bzw. heruntergespielt werden kann; ich vermute, daß von nicht allzuvielen unmittelbar eingesehen werden wird, daß Einheitlichkeit ein Wert an sich darstellt. Daher ist dieses Argument, ohne weitere Untermauerung vorgebracht, eher ungeeignet; stattdessen müssen sowohl die praktischen Gegebenheiten als auch die negativen Konsequenzen der fehlenden Einheitlichkeit sehr deutlich aufgezeigt werden. Es ist schwierig, dies mit wenigen Worten auszudrücken, ja eventuell nur mit einem griffigen Schlagwort, das die Misere klar werden läßt.
Vor allem muß man dabei die allgemeine Resignation berücksichtigen, es schreibe sowieso jeder, wie er will. Einerseits liegen dieser Haltung zwei Mißverständnisse zugrunde: Erstens bezieht sich die Kritik auf die Diversität im privaten Bereich, sondern darauf, was in der Schule gelehrt wird und was in Büchern gedruckt wird. Zweitens geht es nicht um sich mehr oder weniger zufällig ausbildende Varianten, sondern darum, daß ihr Auftreten systematisch durch die Neuregelung bedingt ist was sofort auf den Aspekt (ii) führt.
Andererseits kann man diesen Gedanken auch sofort gegen die Reform kehren und fragen, ob denn der so beschriebene Zustand wünschenswert sei und einen Fortschritt darstelle.
Die im ersten Abschnitt der FDS-Bilanz genannten Aspekte gehen bereits in die richtige Richtung, können aber in anderem Zusammenhang noch ergänzt und systematischer präsentiert werden: historische Aspekte (Bedeutung nicht nur für die sprachliche, sondern auch für die kulturelle und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung des deutschsprachigen Raumes; grundlegende Tendenz der Entwicklung der Orthographie), praktische Aspekte, prinzipielle Aspekte etc. Bei dem Bezug auf die Hausorthographien könnte der Bilanz-Text um den Inhalt der Klagen ergänzt werden, d. h. die Gründe dafür könnten angegeben werden, die damals genannt wurden, warum dieser Zustand schlecht ist. Dann könnte darauf verwiesen werden, wie altbekannt die jetzigen Probleme sind, und wie ignorant die Reform sich diesen Problemen gegenüber verhält.
Zu (ii): Damit dieser wunde Punkt nicht nur als eine mehr oder weniger glaubhafte Einschätzung oder lediglich als bloße Behauptung erscheint, muß man hier besonders klar argumentieren. Man kann auf zwei Dinge hinweisen: Zum einen gibt es für die Zeitungen keinen Grund, ihre (aus der vorhandenen Freiheit heraus nach ihren Bedürfnissen konzipierten) Hausorthographien zu korrigieren; man kann sie auch nicht dazu zwingen. Zum anderen gehen ja die Reformer selber davon aus, daß der Hauptadressatenkreis der Reform die Schüler der Primarstufe und Sekundarstufe I sind, mithin also die von den reformierten Regeln vermittelte Orthographie nur ein Grundwissen darstellen kann. Auf die Ausrichtung der Reform an der Vermittelbarkeit in der Schule hat Prof. Gallmann in seiner Vorlesung explizit hingewiesen, und auch darauf, daß die jetzige liberale Kommasetzung den Anforderungen professioneller Schreiber nicht genügt. (Zu beidem siehe Zum Komma bei Infinitivgruppen, Seiten 1, 4f. In der Fußnote 3 auf S. 4 findet sich zudem folgende Bemerkung zum Schulunterricht: »Und andererseits werden die Möglichkeiten nicht genutzt, die die Sekundarstufe II bietet, um die anspruchsvolleren Bereiche der Rechtschreibung (und der Grammatik) zu behandeln.«)
Einen weiteren Beleg liefert folgendes Zitat von Hermann Zabel (Die neue deutsche Rechtschreibung. Überblick und Kommentar. Gütersloh 1997; zitiert nach H. Kuhlmann, Abschnitt Die Beweggründe und Ziele, Anmerkung 221): Orthographische Regeln dürften sich »nicht unkritisch am Leistungsvermögen eines Abiturienten oder an den Bedürfnissen spezieller Berufsgruppen wie der Setzer und Drucker orientieren. Vielmehr muss der Abschluss der Pflichtschulzeit [...] der Bezugspunkt sein, von dem aus der Schwierigkeitsgrad der Regeln festzulegen und zu beurteilen ist.« Wichtig ist dabei aber, daß allein der Unterschied zwischen einer Schulorthographie und einem darüber hinausgehenden Standard im Buchdruck nichts Negatives zu sein braucht; dies entspricht ja dem Zustand vor der Zusammenlegung des Volks- und des Buchdruckerdudens 1915. Das heutige Problem besteht darin, daß eben nicht einfach eine Untermenge der bestehenden Regeln zur Schulorthographie erklärt wurde, sondern daß durch die Neuregelung die Orthographie im Schulbereich allein im Hinblick auf die Schüler geändert wurde und daß dabei Fehler gemacht wurden, die zu unbrauchbaren Schreibungen führen.
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Jan-Martin Wagner
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