Neuregelung 1992
Randnotizen beim Wiederlesen der Vorlage von 1992:
Neuregelung der deutschen Rechtschreibung 1992
„Vor allem die Fehler dienen als Begründung für eine Reform.“ (Bericht der taz vom 22.8.1992, nach dem Reformer Wolfgang Mentrup). Vgl. auch die Begründung der Änderung von daß zu das im Reformvorschlag von 1992, S. 133 u. ö.: Fehlerhäufigkeit als Motiv. Ministerin Ahnen irrte also im Spiegel-Interview 2004.
Dieselben Schweizer, die auch wieder im Rat für deutsche Rechtschreibung sitzen, schlugen damals vor, Häärchen, Sääle, Böötchen zu schreiben. Das war ihnen so wichtig, daß sie ein Minderheitsvotum zu Protokoll gaben.
S. 132: Die Reformer wußten, daß die neue ss-Schreibung eigentlich nicht der Stammschreibung entspricht, weil in weiß/wissen usw. der s-Laut verschieden wiedergegeben wird, abhängig von der Vokallänge. Das Stammprinzip gilt also nur dort, wo wegen der Kürze des Vokals schon aufgrund phonetischer Kriterien ein ss stehen muß. Damit erweist sich aber die Beschwörung des Stammprinzips als redundante Überdetermination, die zudem noch neue Ausnahmen erzeugt wie eben weiß/wissen, fließen/Fluss usw.
1992 nahmen die Reformer zu Unrecht an, daß bisher schon 27-Tonner vorgeschrieben sei und diese Substantivregel nur auf Adjektive ausgedehnt zu werden brauche.
1992 leiteten die Reformer her, daß müßiggehen zusammengeschrieben werden müsse (müßig nicht erweiterbar, S. 144); wenig später dekretierten sie, daß es getrennt geschrieben werden müsse (müßig endet auf -ig, und alle Adjektive auf -ig müssen getrennt geschrieben werden). Auf die Frage, was die Endung mit der Getrennt- und Zusammenschreibung zu tun habe, antwortete Schaeder: gar nichts, aber eine willkürliche Regel ist besser als gar keine.
Von solchen willkürlichen und zufälligen Entscheidungen, die innerhalb der „Experten“-Gruppe demokratisch abgestimmt wurden, soll die deutsche Schriftsprache geprägt werden.
Die Reformer behaupten, schon nach dem bisherigen Duden werde der Anblick ist Grauen erregend geschrieben (Vorlage 1992, S. 142). Damit haben sie jedoch R 209 mißverstanden:
- Man schreibt auch dann zusammen, wenn die Zusammensetzung eine [dauernde] Eigenschaft bezeichnet, die vielen Dingen in gleicher Weise eigen ist, d. h., wenn sie klassenbildend gebraucht wird.
eine fleischfressende Pflanze, die Tücher sind reinseiden, die eisenverarbeitende Industrie, wärmeisolierende Stoffe
- In bestimmten Fällen ist es der Entscheidung des Schreibenden überlassen, ob er zusammenschreibt (dann liegt beim Sprechen die Hauptbetonung auf dem ersten Bestandteil) oder getrennt (dann werden beide Glieder gleichmäßig betont). In der Regel schreibt man solche Fügungen getrennt, wenn sie in prädikativer Stellung (in der Satzaussage) stehen. (Vgl. auch R 206.)
die obenerwähnte Auffassung
oder: die oben erwähnte Auffassung
eine leichtverdauliche Speise
oder: eine leicht verdauliche Speise
kochendheißes Wasser
oder: kochend heißes Wasser
die Speisen sind leicht verdaulich
das Wasser ist kochend heiß
Die Bestimmung über die prädikative Verwendung bezieht sich nicht auf den vorhergehenden Unterpunkt.
Im Kommentar S. 141 wird die Bestimmung über Getrenntschreibung bei -einander- ausgesprochen, im Regelwerk 1996 nicht mehr.
Von Thron wird behauptet, es sei „das einzige ursprünglich entlehnte, aber als deutsch empfundene Wort mit Th“ – ist das im Vergleich mit Theater nachgeprüft worden?
Die Reformer haben es versäumt, die übliche Rechtschreibung von ihrer Darstellung im Duden zu unterscheiden und eine empirische Bestandsaufnahme zu machen, sie haben aber auch den Duden nicht sorgfältig genug gelesen. (Beispiele: 27-Tonner, Grauen erregend)
„Bei diesen [festen Verbindungen läßt sich] die Großschreibung nichtsubstantivischer Bestandteile mit der wortartkennzeichnenden Funktion der großen Anfangsbuchstaben nicht in Einklang bringen.“ (173)
Das ist eine petitio principii. Statt weiter nach der Funktion der Großschreibung zu fragen, behaupten die Reformer, es geht um die Kennzeichnung einer Wortart, und brandmarken das, was sich nicht dieser These fügt, als unbegreifliche Abweichung.
Die Reformer wundern sich darüber, daß Bezugsadjektive wie Goethesch von qualitativen Adjektiven wie kafkaesk unterschieden werden; sie erkennen den Unterschied nicht und bezeichnen ihn ironisch als „feinsinnig“ (175).
Alle Reformer sind Anhänger der Kleinschreibung. Sie kritisierten stets die modifizierte Großschreibung, die sie nach dem Einspruch der Politik nun gleichwohl zähneknirschend verteidigen müssen. (183 u. ö.)
Sie bezweifeln nicht, daß die Substantivgroßschreibung das Lesen beschleunigt, spielen den Vorteil aber herunter: Statt 1000 Wörter liest man mit Kleinschreibung in derselben Zeit dann eben nur 950 (192). Das sieht nach wenig aus, bedeutet aber, daß man in einem Gelehrtenleben von 50 Lesejahren ein ganzes Jahr verliert, wenn die Kleinschreibung sich durchsetzt. Das mag eine Milchmädchenrechnung sein, sie beruht jedoch auf den Vorgaben der Reformer selbst.
Weinrichs Hinweis, daß die durch Großbuchstaben das Auge fesselnden Substantive schnell erkennen lassen, wovon der Text handelt, wird nicht durch das Argument entkräftet, daß dann immer noch nicht klar ist, was im Text gesagt wird. Darum geht es ja nicht, sondern um die Thematik, und sie erlaubt schnelle Orientierung darüber, ob der Text den Leser interessieren muß. Daß Großbuchstaben die Aufmerksamkeit fesseln, bestreiten die Reformer nicht: 152 u.ö.
In dieser Fassung auch die kulturrevolutionäre Pädagogik:
„Das meiste, was gedruckt oder geschrieben wird, gilt dem Tagesbedarf: Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, Korrespondenz, Schulbücher. Geht man von 1995 als einem möglichen Reformdatum aus, so brauchen die Kinder, die ab dann (...) lesen lernen, in den seltensten Fällen etwas von dem zu lesen, was vor 1995 geschrieben und gedruckt wurde.“ (Internationaler Arbeitskreis für Orthographie [Hg.] 1992, S.195)
Bei der Silbentrennung bezog sich die traditionelle Forderung nach morphologischer Trennung „nur auf wenige Sprachen“ (209). Das ist richtig und wird dem besonderen Stellenwert jener Sprachen, besonders der klassischen, gerecht, aus denen wir produktiv entlehnen. Es ist nicht wichtig, Suaheli-Wörter sprachgerecht zu trennen (Ba-ntu usw.). Bei lateinischen und griechischen Wörtern öffnet sich durch die Reform eine Kluft zwischen Trennungen erster und zweiter Klasse. Chinesische Wörter sollten bei der wachsenden Bedeutung dieses Landes allmählich einigermaßen korrekt gesprochen und dementsprechend auch getrennt werden, also nicht La-ot-se usw.
Die Lektüre der Vorlage von 1992 zeigt, daß die heute verhandelte Reform nur eine Momentaufnahme aus der unendlichen Reformdiskussion ist, ein zufälliger Haltepunkt, den wesentlich auch die Einsprüche der Kultusbürokratie mitgestaltet haben. Einige Monate Verhandlung mehr oder weniger, und es wäre etwas anderes dabei herausgekommen.
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Th. Ickler
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