Das ß
Auch zu diesem Thema wird man bei Horst Haider Munske in seinem Buch Die angebliche Rechtschreibreform (zu beziehen bei Herrn Dräger im Reichl Verlag) fündig.
Nachfolgend Auszüge aus seinem Buch:
V.
Das ß
Das ß ist das eigenartigste Zeichen der deutschen Orthographie. Es stammt aus gotischen Kursivschriften des Spätmittelalters und geht wohl, wie der Name sagt, auf eine Verbindung von langem s und sog. geschwänztem z zurück. Solche Buchstabenverbindungen erleichtern das schnelle Schreiben. Diese Praxis fand später auch Eingang in den Buchdruck. Es entstanden sog. Ligaturen, das heißt zwei miteinander verbundene Bleilettern. In den Frakturschriften des 16. Jahrhunderts ist das ß allgemein üblich und fand auch Eingang in europaweit verbreitete Antiquaschriften. Dor wurde es als Verbindung von langem s und rundem Schluß-s umgedeutet. Eine komplizierte Lebensgeschichte. Im 19. Jahrhundert verschwinden langes s und ß aus den europäischen Antiquaschriften, nachdem auch die Frakturschrift ungebräuchlich geworden war – außer in Deutschland, wo Fraktur und ,deutsche‘ Schreibschrift bis zur Abschaffung durch Hitler im Jahre 1941 allgemein üblich bleiben. So konnte das ß zu einem Kennzeichen und Symbol deutscher Orthographie werden.
Die Verwendung des ß ist begrenzt: nie am Anfang, niemals groß geschrieben. Scharfes s nennen es manche, denn es steht immer nur für stimmloses s, nie für stimmhaftes. Darin unterscheidet es sich vom einfachen s, das sich auf beide Laute beziehen kann. Es gibt mehrere Verwendungen des ß: im Inlaut nach Langvokal und Diphthong steht es für stimmloses s, um es vom stimmhaften zu unterscheiden. So können wir Muse und Muße, reisen und reißen, die sich lautlich unterscheiden, auch in der Schreibung erkennen. Ferner als Schluß-ß nach kurzem Vokal und in dem Wörtchen daß. Beides soll künftig beseitigt werden.
Ist es hier überflüssig? Wir wollen verstehen, wozu es dient. Das sogenannte Schluß-ß tritt auf, wenn eigentlich ss nach Stammprinzip zu erwarten wäre. Statt muss wie in müssen steht muß, statt müsste steht müßte. Das ß übernimmt damit eine zusätzliche Information, die über den Lautbezug hinausgeht. Es sagt uns: Hier endet das Wort muß oder der Stamm müß-. Was ist damit gewonnen? Es ergänzt die Information von Wortzwischenräumen, Interpunktion und Großschreibung. Solche Grenzsignale sind ein wichtiges Merkmal leserorientierter Schriftsysteme. Meist wird der Wortbeginn markiert, die Kennzeichnung des Stamm- oder Wortendes erfolgt seltener. Das ß ist dazu das einzige Mittel. Dazu dient es seit seiner Entstehung. Eine besonders wichtige Funktion hat es in Zusammensetzungen wie Ausschußsitzung, Mißstand, Eßsaal oder Schlußsatz. Hier zeigt es die Kompositionsfuge an und erleichtert es, die Teile des zusammengesetzten Wortes zu erkennen. Diese Erleichterung des Lesens sollte man nicht ohne Not über Bord werfen.
VI.
Zum Wörtchen daß
…
Gute Gründe haben also dazu geführt, daß die Unterscheidungsschreibung selbst in der sogenannten Rechtschreibreform beibehalten wurde. Warum dann aber eine Schreibänderung von daß zu dass? Offenbar sollte dem Schluß-ß unbedingt der Garaus gemacht werden. Dabei gab es gute Gründe, am daß nicht zu rühren. Doppelkonsonanten sind nämlich in unserer Rechtschreibung vor allem flektierbaren Wörtern vorbehalten, um ein Gelenk zwischen zwei Silben bilden zu können (Män-ner). Unflektierbare Einsilber wie in, mit, bis schreibt man zu Recht nur mit einfachem Konsonanten. Will man also weiterhin Pronomen und Konjunktion in der Schreibung unterscheiden, dann ist dafür das Sonderzeichen ß am besten geeignet. Es hebt auch durch seine graphische Oberlänge die Konjunktion daß gegenüber dem Pronomen das ab. Die Weisheit historischer Entwicklung ist auch hier den falschen Vereinfachungen von Reformern vorzuziehen. Das bestätigt auch die erhöhte Fehlerquote der neuen ss-Schreibung.
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