Ein perfider Spiegel-Artikel
Debatte über Volksentscheide
Wo es brodelt
Von Christoph Schwennicke
Populisten sagen es so: Nur Volksentscheide bilden die wahren Mehrheiten im Land ab. Doch bei einem solchen Votum gewinnt, wer am meisten in die Stimmungsmache investieren kann. Das Resultat ist gekaufte Politik und weniger Demokratie.
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Hier soll unabhängig vom Ergebnis allein die Frage betrachtet werden, ob diese Schweizer Volksabstimmung ein Beleg dafür ist, dass die Mehrheitsmeinung in unserer repräsentativen Demokratie von Parteien, von Regierung und Opposition unterdrückt wird, ob es also auch in Deutschland an der Zeit wäre, auf Bundesebene einen Volksentscheid zuzulassen.
Richtig daran ist, dass sich die Parteien am wenigstens vielleicht noch die Linkspartei in einem Maße vom Wahlvolk abgekoppelt haben, dass es ihnen selbst unangenehm auffällt. Nur so ist zu erklären, dass der neue SPD-Chef Sigmar Gabriel bei seinem Inthronisierungsparteitag seinen Sozialdemokraten eingebläut hat, wieder dahin zu gehen, wo es brodelt. Nur so ist zu erklären, dass Kanzlerin Angela Merkel ihre CDU behaupten lässt, nah bei den Menschen zu sein.
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Die Parteiendemokratie hat sich zu einer Art Parteienautokratie entwickelt. Das darf man sagen, ohne gleich in die gleiche Schublade mit Herbert von Arnim gesteckt zu werden. Das deutsche Grundgesetz, eines der besten Bücher, die in diesem Land je geschrieben worden sind, weist den Parteien in der repräsentativen Demokratie eine dienende Rolle zu sie sollen bei der Willensbildung mitwirken. …
Die da oben, wir hier unten dieses Gefühl hat sich eingeschlichen, und es wurde umso stärker, je mehr die da oben dazu übergingen, unbequeme Entscheidungen zu treffen, deren Notwendigkeit die hier unten in dem Augenblick noch nicht einsahen [„der beschränkte Untertanenverstand“], als die Entscheidungen aber spätestens zu treffen waren. Dazu gehören der Nato-Doppelbeschluss, die Agenda-Politik und der Krieg auf dem Balkan. …
Eine Ted-Demokratie verschärft die Probleme noch ...
Die Deformationen, die Unwuchten unserer Parteiendemokratie zu sehen und zu benennen, sollte aber nicht dazu verleiten, das Heil in einer Ted-Demokratie der Volksentscheide zu suchen. …
… Wer über die Mittel verfügt, eine Kampagne durchzuziehen, der hat am Ende auch die besseren Chancen, den Volksentscheid für sich zu entscheiden.
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Der Lobbyismus, mit anderen Worten: gekaufte Politik, ist ein Problem der repräsentativen Demokratie, er würde aber zu einem noch größeren Problem in der direkten Demokratie. Der Filter fällt weg, der parlamentarische Prozess, das Abwägen. Volksentscheide sorgen also nicht für mehr Demokratie, sondern für weniger.
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Von Befürwortern von Volksentscheiden wird im übrigen gerne ins Feld geführt, dass darüber die wahren Mehrheiten im Land zu Tage träten. Also sollten sie zwei wahre Mehrheiten zur Kenntnis nehmen. Erstens: Die einzige der im Bundestag vertretenen Parteien, die sich gegen mehr plebiszitäre Elemente auf Bundesebene ausgesprochen hat, ist die Wahlgewinnerin CDU …
Statt einen Systemwechsel weg von der repräsentativen Demokratie hin zur direkten Demokratie vorzunehmen, wäre es viel sinnvoller, das bestehende System zu optimieren und die Parteien zu zwingen, sich zu verändern. …
Mit einem Wort: Der bessere Weg zu mehr Demokratie führt über das Wahlrecht, nicht über den bundesweiten Volksentscheid.
spiegel.de 1.12.09
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