Kiez-Deutsch
Am 13. August 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut, der Zustrom gut ausgebildeter Arbeitskräfte aus der DDR versiegte. Zweieinhalb Monate später schloß die Bundesregierung das Anwerbeabkommen mit der Türkei – unter dem Druck der USA, der Raffgier der Kapitalisten und der Arbeitsscheu der Sozis. Fünf Jahre später meinte ein Professor für Stadtplanung, der Einsatz damals so genannter „Gastarbeiter“ würde nicht von Dauer sein: „Irgendwann werden wir unsere Straßen wieder selber fegen müssen.“ Welch ein Irrtum! Jetzt ebnen und fegen wir denen die Straßen, vorerst zur Integration. Und nun sollen wir auch noch das Schrumpf-Deutsch ihres Nachwuchses lernen, was uns besonders die Gutmenschin und Konjunkturritterin Heike Wiese ans Herz legen will – mit hämischer Freude gefördert von „linksgrün“ bis „Spiegel“:
Der Kiezdeutsch-Test
Wie gut ist Ihr Kiezdeutsch?
Sprachbewahrer kämpfen verbissen gegen Kiezdeutsch. Der Schulhof-Slang verhunzt unsere Sprache, meinen sie. Alles Quatsch, sagt hingegen die Sprachforscherin Heike Wiese. Denn Kiezdeutsch sei genauso ein Dialekt wie Bayerisch und Schwäbisch. Könnten Sie auf dem Schulhof mithalten?
• Zehn Fragen zum Selbsttest!
[Nur „richtige“ Sätze mit Erläuterung zitiert!]
Frage 1 von 10
Martin berichtet seinem Kumpel von einem Gespräch mit einem anderen Freund, der eine Lüge über ihn verbreitet hat. Der kann das nicht glauben. Martin bestätigt:
• Wallah – das hat er gesagt!
In Kiezdeutsch ist wallah (aus arabisch bei Allah) ein neues Fremdwort, das eine ähnliche Bedeutung hat wie das jugendsprachliche echt und ebenso zur Bekräftigung dient. Anders als echt steht wallah als reguläre Bekräftigungspartikel immer vor oder nach einem Satz, aber nicht im Mittelfeld des Satzes.
Frage 2 von 10
Melisa ist mit ihrer Freundin beim Einkaufsbummel und will noch in ein Schuhgeschäft gehen. Sie erklärt:
• Ich such so schwarze Sneakers.
... die Partikel so kann in Kiezdeutsch (und auch in anderen Varianten der deutschen Umgangssprache) als Fokusmarker verwendet werden, das heißt, sie markiert den Teil des Satzes, in dem die besonders hervorgehobene, neue Information steht. In dem Beispiel ist das schwarze Sneakers, nicht suchen; daher muss so bei schwarze Sneakers stehen.
Frage 3 von 10
Zwei Freundinnen laufen durch Kreuzberg und treffen eine dritte Freundin, die sich ihnen später anschließen will und deshalb fragt, wo sie noch hingehen. Sie antworten:
• Wir gehen nachher noch Görlitzer Park.
... In Kiezdeutsch können Orts- und Zeitangaben als bloße Nominalphrasen, ohne Präposition und Artikel, stehen (Görlitzer Park statt zum Görlitzer Park). Dies gilt aber nicht für Eigennamen, die sich auf Personen beziehen (Sarah).
Frage 4 von 10
Auf dem Schulhof sieht Mehmet seinen Kumpel vorbeilaufen und will ihn zu sich rufen, um mit ihm zu reden. Er ruft:
• Ey, komm mal her, lan!
... in Kiezdeutsch ist lan (aus türkisch Mann / Typ) ein neues Fremdwort, das so ähnlich gebraucht wird wie das jugendsprachliche Alter, das heißt, als Anredeform, die auch Äußerungsgrenzen markiert. Entsprechend kann es vor oder nach einem Satz stehen, aber nicht im Mittelfeld des Satzes (= nicht vor her).
Frage 5 von 10
Lena will mit ihren beiden Freundinnen auf ein Konzert gehen und wartet auf sie am Eingang zum Stadion. Als die beiden ankommen, sagen sie, dass sie noch keine Eintrittskarten haben und überlegen, wo die Kasse ist. Lena hat schon eine Karte gekauft und sagt:
• Ich weiß, wo die Karten gibs.
... in Kiezdeutsch kann man die Form gibs (aus gibts) als Existenzpartikel verwenden, das heißt, als festen Ausdruck, der anzeigt, dass etwas existiert. Das gilt aber nur für gibs aus gibts in der Bedeutung von existieren, nicht aus geben im Sinne von "überreichen...
Frage 6 von 10
Devins Mutter hat ihre Brille verlegt. Devin hat sie gerade noch im Wohnzimmer gesehen, aber dort ist sie nicht mehr. Er sagt:
• Die lag eben noch auf dem kleinen Tisch. Wirklich!
... Kiezdeutsch verwenden Jugendliche, wenn sie untereinander sind, aber nicht gegenüber Außenstehenden wie zum Beispiel ihren Eltern. Zur Bekräftigung würde man deshalb gegenüber seiner Mutter so etwas wie Wirklich! sagen, aber nicht Ischwör, lan!
Frage 7 von 10
Zwei Jugendliche sind auf dem Ku’damm unterwegs, um einzukaufen. Sie beschließen, zuerst in einen CD-Laden zu gehen. Einer von beiden sagt:
• Danach ich will noch ’ne Hose kaufen.
... In Kiezdeutsch können am Satzanfang noch Adverbiale des Ortes oder der Zeit (danach) vor dem Subjekt (ich) stehen. Für Objekte ("ne Hose) gilt dies normalerweise nicht...
Frage 8 von 10
Zwei Jugendliche haben sich gerade kennengelernt und wollen Telefonnummern austauschen. Einer von beiden fragt:
• Hast du Handy?
... Im gesprochenen Deutschen wird das Wort ein meist stark verkürzt. So wird aus Hast du ein Handy normalerweise Hast du'n Handy? Kiezdeutsch geht oft noch einen Schritt weiter und lässt auch das n noch weg.
Frage 9 von 10
Mehmet und Sarah fahren mit dem Bus, sie überlegen, wann sie aussteigen. Sarah sagt:
• Lassma Moritzplatz aussteigen!
... Lassma und musstu sind neue Funktionswörter, die aus lass uns mal und musst du entstanden sind. Beide Ausdrücke treten auch außerhalb von Kiezdeutsch in der gesprochenen Sprache häufig auf. In diesem Fall passt Lassma Moritzplatz aussteigen besser, weil es die Sprecherin mit einbezieht...
Frage 10 von 10
Zwei Freundinnen sind unzufrieden mit ihrem Jahrgang an der Schule. Eine sagt:
• Jeder macht Streit!
... Im Deutschen gibt es viele Wendungen mit Verben wie machen, sein oder erheben, die sogenannte Funktionsverbgefüge bilden, beispielsweise Angst machen, in Einsatz sein und Anklage erheben. Hier ist das Nomen hauptsächlich für die Bedeutung zuständig (Angst, Einsatz, Anklage). Das Verb übernimmt in erster Linie grammatische Funktionen und informiert über die Aktionsart, zum Beispiel signalisiert machen eine Handlung, sein einen Zustand. Im Standarddeutschen gibt es ein festes Inventar von Funktionsverbgefügen, in Kiezdeutsch kommen neue hinzu, zum Beispiel Streit machen. Die Kombination mit machen zeigt hier eine Handlung an; mit sein ginge das nicht.
[Nach willkürlichem Anklicken meldet die Auswertung ermutigend:]
Sie haben 4 von 10 Punkten.
Das war gar nicht so übel. Ein bisschen Training brauchen Sie allerdings schon noch, wenn Sie auf Kreuzberger Schulhöfen mithalten möchten.
spiegel.de/schulspiegel 24.9.2012
Geä. 27.7.16
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