Dr. Ulrich Kliegis an SHEV
04.12.2017 21:29 Uhr
Re: [SHEV] Medizin-NC: Sollte man auch ohne Einser-Abi Arzt werden dürfen?
Von:
Dr. Ulrich Kliegis
> Eine andere deutsche Besonderheit ist die Wartezeitquote. Sie wurde
> eingeführt, um das Grundrecht auf freie Berufswahl zu gewährleisten.
> Allerdings müssen die Bewerber aktuell sieben bis acht Jahre auf
> ihren Medizinstudienplatz warten. ...
Allein bei diesem Punkt wird der ganze bizarre Wahnsinn des Systems leitsymptomatisch deutlich. Jährlich kommen in Deutschland ca. 2.000 junge Leute nach aktuell über 8 Jahren Wartezeit nach dem Abitur endlich zu ihrem Wunschstudienplatz. Das sind Jahr für Jahr 16.000 fremdverschwendete Lebensjahre, die diese jungen Leute, die dann doch ganz überwiegend hervorragende Studien- und Lernleistungen und am Schluß auch noch sehr gute ärztliche Fähigkeiten vorweisen, ganz gewiß nicht zum eigenen Nutzen ins Gemeinwohl einbringen.
Um den Wahnsinn noch zu potenzieren, hat sich die KMK, übrigens ein total unkontrollierbares Gebilde in einem rechtsfreien Umfeld, nach dem 2. Weltkrieg von den Briten erstmals eingesetzt, um in dem jungen föderalen System, in dem die Bildungshoheit den Ländern zugesprochen wurde, wenigstens etwas Synchronität herzustellen, ausgedacht, daß diese jungen Leute in der Wartezeit auf diesen Studienplatz an keiner deutschen Hochschule studieren dürfen. Jedes Semester (z.B. i.S. eines studium generale, was ja noch sinnvoll wäre, oder z.B. Jura, um dann mit einer Doppelausbildung ein guter Rechtsmediziner zu werden) wird auf die Wartezeit angerechnet. Man kann fast dankbar sein, daß die Wartezeit dann nicht ggf. wieder bei Null beginnt.
Studieren diese jungen Leute in der Wartezeit aber im Ausland, z.B. werden in einigen neuen osteuropäischen EU-Ländern hervorragende vorklinische Studiengänge auf deutsch oder englisch angeboten, das Physikum ist nach deutscher Approbationsordnung gestaltet, dort erlangte Prüfungen werden immerhin hier regelmäßig anerkannt, steht ihnen unverhofft die nächste Hürde bevor: Obwohl sie bereits mindestens zwei Jahre Regelstudienzeit, durchgehend privat finanziert, mit Abschluß dieser Phase vorweisen können, wird ihnen der Zugang zum dann folgenden klinischen Teil des Medizinstudiums an deutschen Universitäten (mit einer rühmlichen Ausnahme (noch!), nein, sie ist nicht in SH) verwehrt. Sie müssen sich als formale Erstsemester wieder hinten anstellen.
Schlimmstenfalls heißt es dann also noch einmal zwei Jahre rumsitzen und warten, bis man nach Kalender dran ist.
Und dann sind da noch die Gemeinschaftsschul-Abiturzeugnisse. Ganze drei Jahre Unterricht nach gymnasialen, nein, sagen wir mal, schemenhaft einem gymnasialen Curriculum ähnelnden Ideen eines Lehrplans, denn nach 5 Jahren Unterricht auf unterem Hauptschulanspruchsniveau in der Gemeinschaftsschule und einem Jahr leidlichem Realschulanspruch kann von dem immer noch gültigen Maßstab der KMK, der für die Allgemeine Hochschulreife das Äquivalent von neun Jahren herkömmlichen gymnasialen Unterricht voraussetzt, wirklich keine Rede mehr sein.
Und 'echte' Gymnasiasten, die erkennen, daß das an ihrem genuinen Bildungsinstitut nicht so erfolgversprechend für sie selbst aussieht, wechseln dann gern mal zur Oberstufe in eine Gemeinschaftsschule. Dort sind sie dann die Kings, ohne sich (nach eigener Aussage, ich kenne eine Menge von diesen Hoffnungsträgern) sonderlich anzustrengen. Ein Einserabi ist dort dann ein Selbstgänger, und ihren fleißigen früheren Mitschülern zeigen sie dann eine lange Nase...
Die mehr oder weniger direkt verfügte Anweisung, das Werden der Gemeinschaftsschulen durch eine ausgesprochen großzügige Leistungsbewertung zu fördern, wird allenthalben willig durchgesetzt. Ovid hatte dafür das Bild eines bovinen Gehorsams...
Schulleiter, die solche Zeugnisse der Allgemeinen Hochschulreife unterzeichnen, machen sich eigentlich der Urkundenfälschung strafbar. Ganz konkret wird an allen Hochschulen, nicht nur in SH, z.B. über die in den letzten Jahren komplett abgestürzten Mathematik- und Rechtschreibkenntnisse der neuen Studienanfänger geklagt. Das ist ernstzunehmen, und man kann den Hochschulen nicht zumuten, den als nahezu prägenial eingestuften Abiturienten erstmal in einem Propädeutikum the basics beizupulen. Das ist und bleibt die Aufgabe der Schulen.
Wenn schon nicht jeder Wunsch nach einem Medizinstudienplatz befriedigt werden kann, sind eigentlich nur zwei Wege denkbar:
a) der lange praktizierte österreichische Weg, nach dem zunächst mal fast jeder angenommen wird, nach zwei Semestern dann aber die Weiche gestellt wird. Die Grundsemester müßten dann sinnvollerweise auf andere Studiengänge, namentlich im Lehramt, anzurechnen sein.
b) eine einheitliche allgemeine Eingangsprüfung, z.B. nach Art des sog. Mainzer Medizinertests. Ein Test, der seit Jahren in Gebrauch ist und ein paar Prozentpunkte bei dem 'rats' race' um die Studienplätze bringt. Solide, fachbezogen, aber fachkenntnisvoraussetzungsfrei, der die mentale Leistungsfähigkeit der Aspiranten recht gut abbildet.
Eine Änderung ist jedenfalls unabdingbar, und das schnell.
Die Politik hat gegenüber der Gesellschaft die Pflicht und Bringeschuld, dafür zu sorgen, daß a) genügend Ärzte ausgebildet werden, und daß b) hierfür die am besten geeigneten die Chance erhalten, diesen Berufswunsch verwirklichen zu können.
Vielleicht zeigt unsere neue Bildungsministerin ja auch in der KMK mal ein deutliches Profil. Zu wünschen ist es allen jetzigen und zukünftigen Studienplatzanwärtern, ob nun für Medizin oder ein anderes NC-Fach.
Gruß,
UK
(im richtigen Leben Dr. med. ...)
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