...daß nicht sein kann, was nicht sein darf!
Liebe Frau Menges,
Bei Ihren Beiträgen habe ich den Eindruck, daß sie die ganze Sache ein wenig zu einseitig nach kurzsichtigen Kategorien von Schritt zurück usw. sehen. Wenn ein Schritt in eine Richtung sich als unvorteilhaft erwiesen hat, ist es doch am vernünftigsten, diesen Schritt wieder zurückzunehmen. Stellt sich die Richtung als falsch heraus, ist ein Rückschritt der wahre Fortschritt. Da muß man sich nicht ewig den Kopf zerbrechen, ob man vielleicht doch noch weitermarschieren sollte, wenn schon der erste Schritt ein Desaster ist. Ich mache mir manchmal etwas Sorgen darum, was für Lebensprinzipien Pädagogen Kindern vermitteln, die es vormachen, sich an einmal angeleierte Projekte rein um der Sache selbst willen festzuklammern, auch wenn sich noch so viel berechtigte negative Kritik daran anbringen läßt (wo die Reform nun mal eingeführt wurde, muß man sie auch durchziehen, Argumentationsende.). Zuende gedacht werden Handlungen dann schon dadurch richtig, daß man sie nur tut, weitere Begründung überflüssig, Widerstand ungültig. Ich halte das nicht gerade für eine sehr weise und vernünftige Lebensphilosophie. Den anvertrauten Kindern sollte nicht die Maxime eingeprägt werden, es sei besonders klug oder gar fortschrittlich, mit Scheuklappen durch die Gegend zu laufen, immer schön brav an den Zügeln der Obrigkeit was diese beschließt, wird schon richtig sein, und wenn gleich mehrere Schulleiter zu einem gemeinsamen Schluß kämen, sei damit bereits der Beweis erbracht, daß es sich dabei doch wohl um keinen Fehler handeln könne. Die historischen Begründer des staatlichen Schulwesens dürften sich im Grabe umdrehen über solch eine bestürzend verfehlte Erziehung zu eigenständigem Denken. Das ist keine Erziehung zu Mündigkeit, sondern zu Untertanengeist. Macht sich gerade im Kontext deutscher Geschichte nicht ganz so gut.
Betrachtet man die neue Rechtschreibung ganz genau und versucht zu ermitteln, was faktisch eigentlich nun überhaupt an Erleichterung anfallen kann und was vielleicht doch nur auf den ersten Blick so wirkt oder unbesehen als das hingenommen wird, als das es oberflächlich und apodiktisch von ihren Händlern propagiert wird, dann wird deutlich, daß das Erlernen der resultierenden Schreibweisen für ein Schulkind, ob mit oder ohne besondere Behinderung, genauso einfach oder schwierig ist als zuvor. Wer ihnen als Grundschüler unvoreingenommen begegnet, wird die neuen Schreibweisen zunächst einfach als gegeben hinnehmen. Bloß werden die Kinder noch auf Jahrzehnte durch all jenes Schriftwerk verwirrt, das nicht in der neuen Rechtschreibung verfaßt ist, also fast alles, was sich in privaten und öffentlichen Bibliotheken vorfinden läßt. Den Nachwuchs deswegen davon völlig isolieren zu wollen, wäre wohl im Zusammenhang mit Bildungsidealen an Absurdität nicht mehr zu überbieten. Oder soll man mit einem aberwitzigen Finanzaufwand all die überholten Schriftwerke austauschen? Das ist in der Praxis auch aus ganz anderen Gründen unmöglich durchführbar (Konvertierungsverbot von namhaften Literaten usw.). Doch selbst, wenn man dieses Problem ausblendet, müssen die Kinder nach der Reform mit einem bedeutend umfangreicheren Regelwerk als bisher zurechtkommen, das in sehr vielen Bereichen auch viel komplizierter ausfällt, während es gleichzeitig eine primitivere, schlechter differenzierende, weniger leseökonomische Verschriftung der Sprache ergibt. Schauen Sie selbst nach: Errechnen Sie grob die Anzahl der Buchstaben, die das Regelwerk im letzten Duden vor der Reform einnimmt und die Anzahl der Buchstaben, die für den offiziellen Wortlaut der Neuregelung benötigt werden. Beide Texte sind in der Ausführlichkeit ihrer Formulierungen etwa gleich; die neuen Regeln sind aber ungefähr eineinhalbmal so umfangreich. Wie können die Regeln dann insgesamt eine Lernerleichterung darstellen? Selbst bei gleicher Länge wäre das Ziel der Lernerleichterung nicht erreicht gewesen, doch das Regelwerk ist ja sogar noch gewachsen! Die Regeldarstellung in Icklers Rechtschreibwörterbuch ist übrigens beinahe nur ein Drittel so lang wie der Reformtext.
Dazu kommt noch, daß viele neue Regeln (vor allem im Bereich Stammprinzip) sich nur in Einzelfällen auf die Schreibweisen auswirken, d.h. um richtig schreiben zu können, muß man diese Einzelfälle genau kennen. Mit demselben Lernaufwand hätte man auch die bisherigen Schreibweisen dieser Wörter lernen können. Der Eindruck, die neuen Regeln würden die Schreibweisen alle viel systematischer machen, kann andernfalls nur zu Übergeneralisierungen führen. Effektiv wird rein gar nichts einfacher; das einzige, was gewonnen wurde, ist Verwirrung.
Wunschdenken darf nicht mit Realität verwechselt werden, sonst rennt man, sonnige Luftschlösser halluzinierend, nur zu leicht blind ins Verderben.
Wollen Sie den Lernschwachen einen Gefallen tun? Dann setzen Sie sich gegen die Reform ein. Die Rechtschreibreform wird mit Lügen verkauft. Im Supermarkt können Sie sich auch nicht darauf verlassen, daß die Wurst so rindfleischfrei ist wie auf der Verpackung behauptet. Man kann die Wurst natürlich trotzdem essen und sich tausendmal einreden, es sei kein Rindfleisch darin, auch wenn es zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Man kann dem auch eine gewisse kulinarische Geschmacksästhetik beimessen, und wie wir wissen, ist es für gewisse Personen auch kein Problem gewesen, über die Medien laut und voller Inbrunst der Gewißheit zu verkünden: Deutschland ist BSE-frei! Es gibt kein BSE in Deutschland, weil man das nicht möchte, und deshalb ist das so, basta, Logik des Wahrheitsministeriums (wir sind immer schon mit Eurasien im Krieg gewesen! usw.). Und also schließt er messerscharf...
Christian Melsa 22149 Hamburg
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