Stromversorgung à la Rechtschreibreform
Ein Land hat seit rund hundert Jahren die Netzspannung 220 Volt. (Zuvor hatte es eine regionale Aufspaltung in Versorgungsgebiete mit verschiedenen Netzspannungen und dauernde Anpassungsprobleme gegeben.) Nun kommen Reformer und wollen die Netzspannung reformieren, weil sie schon so lange gültig sei. Hinweise darauf, daß dadurch Investitionen in neue Leitungen, neue Geräte, neue Beleuchtungsanlagen notwendig werden, dringen bei den Reformern nicht durch. Denn sie sind überzeugt: Reformen sind immer gut, und hier ist jedenfalls mal eine fällig. Ohne Reformen keine Zukunft. Sie sagen, daß Investitionen dem Land immer genutzt haben, und pauschal gesehen könne man deswegen von Kostenneutralität ausgehen. Sie führen die Netzspannung 80 Volt ein. Das Ganze wird als Programm zur Innovation des Landes verkauft.
Daraufhin werden eine Menge neuer Geräte im ganzen Land angeschafft, neue Leitungen werden installiert, selbst die technischen Angaben in allen möglichen Bedienungsanleitungen und auf Verpackungen müssen geändert werden. Die meisten Haushalte greifen zu der einfachen Lösung, einen Transformator vor die eigene Stromversorgung zu schalten, und kommen damit relativ glimpflich davon. (Freilich gibt es immer wieder Berichte von Kaffeemaschinen und Staubsaugern, die nach einem Kurzschluß durchgeschmort sind.) Alle Gebäude von Behörden und Schulen werden zwecks schnellerer Umsetzung der Reform und im Sinne der angestrebten Einheitlichkeit mit neuen Geräten ausgestattet, die mit 80 Volt arbeiten. In den Kaufhäusern stehen alte Geräte neben neuen Geräten. Die Verkaufsflächen werden überall erweitert. Die Käufer sind verunsichert.
Politiker und Presse sprechen von mehrheitlicher Akzeptanz. Es gebe dort, wo 80 Volt eingeführt worden ist, keinerlei Probleme. Die Reform stoße überall zwar nicht auf Begeisterung, aber auf Verständnis. Die Stromversorgung sei nach wie vor gesichert. Außerdem gebe es wichtigere Probleme. Man solle sich nicht so aufregen, sondern für Neuerungen aufgeschlossen sein. Man werde das Ziel 80 Volt niemals aufgeben.
Nach sieben Jahren lassen sich die Proteste und Probleme, die stets geäußert worden sind, von den Reformern nicht mehr abstreiten. In ihrem vierten Rechenschaftsbericht schlagen sie vor, noch mehr Transformatoren einzuführen. Es sei auch möglich, innerhalb desselben Gebäudes sowohl Geräte mit 220 Volt als auch mit 80 Volt zu betreiben. Das sei alles unproblematisch, kein Gerät müsse entsorgt werden. Man müsse sich nur an die neuen Wahlmöglichkeiten gewöhnen. In einer freien Wirtschaft gebe es immer Freiheit und damit Varianten. Natürlich müsse man das Ziel der Einheitlichkeit wahren, und das laute nun einmal 80 Volt.
Die nationale Akademie für Energie- und Wasserversorgung schließt sich nach jahrelangem Protest überraschend dem Vorschlag eines einzelnen Wissenschaftlers an, der ursprünglich der Arbeitsgruppe 80 Volt angehörte, aber nach einigen Jahren die Reform als Irrweg erkannt hat. Er äußert mittlerweile, die Rückkehr zu 220 Volt sei zwar die beste Lösung, diese sei aber angesichts der politischen Situation nicht durchsetzbar. Deshalb sei als Kompromiß die zweitbeste Lösung zu wählen, die ungefähr bei 170 Volt liegen dürfte.
Das Energieministerium sieht konstruktive Möglichkeiten auf der Basis dieses Kompromißvorschlags und ordnet Gespräche zwischen der Kommission für 80 Volt und jener Akademie an, die seit kurzem nicht mehr für 220 Volt, sondern für ungefähr 170 Volt plädiert.
Die Mehrheit der Fachleute und die Mehrheit der Bevölkerung sind zwar jeweils für eine Rückkehr zu der Einheitsspannung 220 Volt. Die meisten Geräte sind nach wie vor auf 220 Volt ausgelegt; viele 80-Volt-Geräte lassen sich zudem ohne Probleme mit Hilfe eines Schalters auf 220 Volt umprogrammieren. Dennoch wird die beste Lösung 220 Volt vom Ministerien als hoffnungslos veraltet hingestellt. Es verweist darauf mit Unterstützung der Massenmedien , daß in einem Jahr laut einem Erlaß von vor acht Jahren nur noch 80 Volt gelten soll. Es würde Planungsunsicherheit bedeuten, wenn dieser acht Jahre alte Erlaß plötzlich nicht mehr gelten würde.
Die Kommission 80 Volt einigt sich nach zähen, engagierten Verhandlungen mit der Akademie auf einen neuen Kompromiß. Für 170 Volt, den Vorschlag der Akademie, würde zwar vieles sprechen, heißt es; aber im Sinne eines Kompromisses habe man sich darauf geeinigt, fair aufeinander zuzugehen. Die Spannung der Zukunft ist nunmehr: 120 Volt.
Das Ministerium freut sich über die vorbildliche demokratische Zusammenarbeit der Experten und den gelungenen Kompromiß. Damit sei nun das Thema endgültig einer befriedigenden Lösung zugeführt, sagt ein Sprecher des Ministeriums. Man müsse sich daran gewöhnen, daß der technische Fortschritt unaufhaltsam sei und Veränderungen mit sich bringe. Nur wer sich ihm anpaßt, sei gerüstet für die Zukunft.
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