Fachidiotie / ''Betriebsblindheit''
»Ein Radfahrer will in 7 Tagen 680 km weit fahren. Während der ersten 5 Tage schafft er täglich 92 km. Wie viele km muss er dann täglich mehr zurücklegen, wenn er jeden Tag die gleiche Strecke fährt?« Wer diese Aufgabe auf Anhieb kapiert, hat entweder von Anfang an sehr langsam und genau gelesen, oder er hat schon einige andere Aufgaben dieses Strickmusters gelöst (so daß die Art der Fragestellung eine untergeordnete Rolle spielt, weil einem die Zielstellung der Frage intuitiv klar ist).
Allen anderen sind darauf angewiesen, schlau genug zu sein, sich aus ihrer Verwirrung lösen und die Bedeutung anhand einer widerspruchsfreien Interpretation erschließen zu können -- womit mal wieder das alte Vorurteil greift, es käme im wesentlichen darauf an, die Aufgabenstellung zu verstehen. Aber Halt, es geht ja nicht um eine Klausuraufgabe an der Uni, sondern um die 4. Klassenstufe in der Schule. Au weia!
Als Physiker bin ich über die -- durchaus mißverstehbare -- Formulierung die gleiche Strecke fahren nicht gestolpert, weil Strecke fachsprachlich nicht unbedingt von Streckenlänge unterschieden wird. Immerhin habe ich nachträglich verstanden, worin das Problem dabei besteht, und dabei ist mir meine eigene Fachidiotie aufgefallen.
Besser (im Sinne von genauer) wäre es, stets von einer Strecke der Länge s=110 km (beispielsweise) zu sprechen -- auch in der Radfahreraufgabe ist ja der konkrete Weg belanglos, nur auf seine Länge kommt es an. (Kilometerzahl ist zwar anschaulich, sollte aber aus systematischen und didaktischen Gründen nicht Gegenstand des Schulunterrichts sein.) Die Frage klingt dann zwar etwas gestelzter, aber sie wäre präzise gestellt.
Vielleicht hätte es schon geholfen, die Verben auszutauschen: "... täglich mehr fahren, ... gleiche Strecke zurücklegt? Die von Herrn Lindenthal vorgeschlagene Entfernung läßt sich nur schwer in diesen Satz einbauen, denn nach meinem Verständnis bezeichnet sie mehr einen (statischen) Abstand denn eine (zu durchfahrende) Wegeslänge. Mit welchem Verb wäre Entfernung sinnvoll zu kombinieren? "... befindet sich in einer Entfernung von ..., ein Tag reicht nicht, die Entfernung ist zu groß ... -- so paßt es, dagegen nicht bei eine Entfernung zurücklegen, finde ich (auch wenn es in schludriger Formulierung so vorkommen mag).
Das beseitigt jedoch nicht das entscheidende Problem, denn es bleibt ja noch das tückische dann (das auch mich durcheinandergebracht hat -- wie ich aber erst durch genaues Hingucken gemerkt habe; seltsam, daß man bestimmte Textteile quasi unbewußt verarbeitet, obwohl man meint, den gesamten Text aufgenommen zu haben, so wie er ist...), welches man gedanklich wegzulassen versucht ist (denn es ist doch klar, daß jetzt aus den Voraussetzungen etwas geschlußfolgert werden soll), oder man zieht es zu einem logischen Konstrukt mit dem nachfogenden wenn zusammen. In beiden Fällen entgeht einem, daß es um die beiden Resttage geht, und wären diese explizit erwähnt worden, entspräche die Aufgabe schon recht gut dem Leitbild von Herrn Lindenthal, daß beispielhaft auch verwickelte Sachverhalte in möglichst genauer, gutverständlicher Sprache dargestellt werden.
Warum aber passiert das nicht?
Eine gewisse Betriebsblindheit ist zwar nicht auszuschließen, auf die Dauer aber intolerabel. Wenn man weiß, was in dem Beispiel mit der Aufgabenstellung gemeint ist, hat man kein Problem, die Frage entsprechend zu verstehen. Und wegen der Logik es fehlen ja noch zwei Tage und also ist schon klar, was gemeint ist kommt man dann nur schwer darauf, daß jemand mit dieser knappen Formulierung Probleme haben kann.
Als Nachhilfelehrer habe ich mitbekommen, was manche Mathematiklehrer ihren Schülern ins Heft diktieren. Wenn man wußte, worauf es abzielte und was es genau bedeuten sollte, gab es damit keine Probleme; es war an und für sich richtig. Für Schüler aber, die es neu lernen sollten, war es unbrauchbar, wenn in der Erklärung keine bzw. zu wenig Begriffe vorkamen, mit denen die Schüler wirklich etwas anfangen konnten oder wenn die Formulierung zu umständlich oder fachsprachlich war.
Eine derartige Fachidiotie bzw. Betriebsblindheit auf einer höheren Ebene stellt das Loslassen der Mengenlehre auf die Schüler dar, wenn das mißachtet wird, was Herr Lindenthal angemerkt hat: »daß die meisten Erkenntnisse der Schul-Mengenlehre im gewöhnlichen Hausverstand bereits enthalten sind [...]«
Ich denke aber nicht, daß man sich deshalb mit diesen Erkenntnissen nicht im Unterricht zu beschäftigen braucht. Ich sehe es wie Herr Schäbler: »Die Mengenlehre hat mir [...] viel in Bezug auf das Zahlenverständnis/diverse Bündelsysteme und das logische Denken gebracht.« Ich war zwar in Mathematik ein sehr guter Schüler und hatte mit dem abstrakten Denken keine Probleme (habe aber die Mengelehre-Uhr auf dem Ku'damm in Berlin nicht ohne Erklärung durchschaut -- die Wasseruhr im Europacenter dagegen schon), aber mir scheint, daß gerade wegen der Parallele zum gewöhnlichen Hausverstand in der Mengenlehre auch für weniger begabte Schüler eine Chance liegt, einen Zugang zur mathematischen Form des abstrakten Denkens zu finden -- und wenn es nur dahin kommt, daß einem die dem Hausverstand zugrundliegenden Prinzipien deutlich werden (das wäre zumindest mein Ansatz beim und meine Rechtfertigung für Mengenlehreunterricht).
Es ist ein Fortschritt, durch Abstraktion und Präzision zu neuen Erkenntnissen kommen zu können, ganz egal in welchem welches Fachgebiet. Man darf dabei aber die Rückkehr an den Ausgangspunkt nicht vergessen, zu der Stelle, an der eine bestimmte Frage auftauchte und aufgrund derer man sich die ganze Mühe gemacht hat; man muß gedanklich irgendwann wieder im normalen Leben ankommen (sonst entgeht einem der Honig -- siehe den vorhergehenden Beitrag von Herrn Ickler). Nur so bleibt es nicht bei Fachidiotie, und vor allem begreift man dann nicht nur etwas von den Zusammenhängen in einem eng umgrenzten Spezialgebiet, sondern auch von denen dieses Gebietes mit dem Rest der Welt. Letzteres trägt wesentlich zu wahrer Mündigkeit und Reife bei.
Ich schließe mit dem Zitat einer Passage aus H.-Ch. Weißkers Gedanken zur Rechtschreibreform (gegen Ende zu finden): Eines der Probleme der Physikdidaktik besteht darin, daß die Schüler oft zwei Parallelwelten wahrnehmen: Eine reale, in der physikalische Effekte wie zum Beispiel die Beschleunigung eines Autos erlebt werden, und eine des Physikunterrichtes, in der mit Formeln hantiert wird, die aber mit der realen Welt gedanklich oft nicht in Verbindung gebracht wird. Unter anderem aus diesem Problem resultiert das stellenweise sehr geringe Verständnis der Zusammenhänge. Daß man nun durch die Rechtschreibreform offensichtlich den in der Rechtschreibung wenigstens teilweise vorhandenen Zusammenhang zwischen Sprachgefühl bzw. äußerer Sprachwelt und schulisch gelernter Rechtschreibung zerstört, erscheint unter diesem Gesichtspunkt bedenklich. Weiterhin wird dem, der sich ernsthaft mit der reformierten Sprache beschäftigt, das wirkliche Verständnis erschwert, insbesondere wenn er oder sie sich über allen Sprachen gemeinsame Gesetzmäßigkeiten Gedanken macht. Aus interdisziplinärer Sicht erscheint ebenso bedenklich, daß implizit gelehrt wird, daß reale Strukturen durch ad-hoc-Bestimmungen von Kultusbeamten überstimmt werden können. Hoffentlich bringen die Schüler diese -- zurecht gewonnene Erkenntnis -- nicht in die Naturwissenschaften ein. Es wäre eine Ohrfeige für all jene, die sich interessiert und engagiert für die Bildung der Kinder einsetzen.
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Jan-Martin Wagner
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