vermißt mit -ss- geschrieben
Der Spiegel 4. März 2008
Ein X für ein ß vormachen
Von Sven Siedenberg
Es sollte eine Hommage an einen ungewöhnlichen Buchstaben werden dafür hat Frank Müller für sein Buch "ß. Ein Buchstabe wird vermisst aus zahlreichen Quellen geklaut. Nach einem Proteststurm betroffener Autoren stoppte der Eichborn-Verlag die Auslieferung in letzter Minute.
Schuld ist die Rechtschreibreform. Ohne sie wäre das "ß" nicht dem Untergang geweiht und niemand wäre auf die Idee gekommen, eine Abschiedshymne auf diesen bedrohten, auch das scharfe S genannten Buchstaben anzustimmen. So aber fühlte sich der Frankfurter Werbetexter Frank Müller berufen, ein Buch zu schreiben, und weil es sein erstes eigenes Buch werden sollte, wollte er nicht bloß von der grausamen Verstümmelung berichten, die etwa der ökologisch korrekt vor sich hin dümpelnde Fluß" erleiden muss, wenn man ihn zum Fluss begradigt.
[Bild]
(ß Ein Buchstabe wird vermißt*
*mit ss geschrieben)
Geplantes Cover von "ß. Ein Buchstabe wird vermisst: Zusammenkopiert aus unterschiedlichen Quellen
Er wollte seine tief empfundene Bewunderung kundtun für diese kühn nach oben schnellende Gerade, an die sich ein sanft herniedergleitender Mäander schmiegt, und die die meisten anderen Mitglieder des Alphabets überragt und somit den Wortinnenraum gliedert.
Bei soviel Begeisterung für Typographie und Design kann selbst einem geübten Sprücheklopfer schon mal die kritische Distanz abhanden kommen. Und so notiert er in seinem Erstlingswerk zwar viele kluge Sätze über die historischen Wurzeln des Eszett, die bis zu einer Urkunde Karls des Großen zurückreichen. Und auch über Majuskeln, Minuskeln und den bis in die Nazizeit anhaltenden Antiqua-Fraktur-Streit ist allerlei zu erfahren.
Nur leider stammen zahlreiche Formulierungen nicht aus der Feder von Frank Müller: Sie sind geklaut. Mal aus dem Buch Falsch ist richtig des renommierten Sprachwissenschaftlers Theodor Ickler. Dann wieder aus der Zeitschrift Signa, deren kenntnisreichen Beiträge Frank Müller offenbar besonders gut gefallen haben. Eifrig kopiert hat der Buchverfasser auch Wikipedia-Artikel. Dabei hat er ganze Sätze und ganze Passagen wörtlich übernommen, manchmal sogar ganze Seiten.
Aufgeflogen ist der Schwindel durch Martin Z. Schröder. Der Schriftsteller, Journalist und Betreiber einer kleinen Druckerei in Berlin war beim Blättern in einem Rezensionsexemplar über Texte gestolpert, die er selbst teilweise erst vor wenigen Monaten verfasst hatte. Schröder offenbarte seine Entdeckung in seinem Weblog Schreiben ist blei und bat Eichborn um eine Stellungnahme. Der Frankfurter Verlag reagierte prompt mit einem Rechtfertigungsversuch, der sich zwischen Selbstlob und Schadensbegrenzung bewegte. Was fehlte, war eine Entschuldigung und die Worte Diebstahl geistigen Eigentums und Betrug. Dabei ist es doch gerade die Verlagsbranche, die sich über Musik-, Video- und Softwarepiraterie gar nicht genug aufregen kann.
Erst nach heftigen Protesten ebenfalls betroffener Autoren (bislang wurden sieben Abschreibopfer ausfindig gemacht), dämmerte dem Verlag das eigene Versagen und die drohende Blamage. Er entschloss sich, das Buch noch vor seinem Erscheinen zurückzuziehen. In der offiziellen Erklärung, veröffentlicht auf der Eichborn-Homepage, heißt es: Der Eichborn Verlag hat den für März angekündigten Sachbuchtitel "ß Ein Buchstabe wird vermisst von Frank Müller zurückgezogen. Nach mehreren Beanstandungen wegen nicht kenntlich gemachter Zitate und fehlender bzw. unvollständiger Quellenangaben, haben wir uns unverzüglich zu diesem Schritt entschlossen. Der Eichborn Verlag und der Autor Frank Müller entschuldigen sich ausdrücklich bei den Autoren der nicht kenntlich gemachten Quellen.
Trotz der Rückrufaktion erschien in der aktuellen Ausgabe des SZ-Magazins eine großformatige Besprechung des Buches, geschrieben vom Betrüger selbst. Das ist peinlich, erklärt sich aber durch den mehrwöchigen Vorlauf des Heftes. Unbeantwortet bleibt die Frage, wieso der zuständigen Eichborn-Lektorin die Stilbrüche, die der Text so üppig aufweist und die auch einem ungeübten Leser hätten auffallen müssen, nicht bemerkt haben will. Und unbeantwortet bleibt vorerst auch die Frage, wieso der Autor, durchaus der deutschen Sprache mächtig und ein studierter Germanist, es nicht geschafft hat, aus eigener Kraft heraus das selbst gewählte Thema zu bewältigen. In einer E-Mail an Martin Z. Schröder hat Frank Müller, auf den möglicherweise erhebliche Schadensersatzforderungen zukommen, lediglich lapidar mitgeteilt, dass sein Plagiat durch technisches Versehen und unter Zeitdruck entstanden sei.
Für eine Stellungnahme gegenüber SPIEGEL ONLINE ist der Autor derzeit nicht erreichbar. Auch seine Homepage hat er inzwischen sperren lassen. Darauf war zu lesen, dass er momentan seine Dissertation vorbereite. Titel: Das Erzählen der Apokalypse. Als hätte er alles geahnt.
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