Anno dazumal und anderes
Wie klug die Regelung ist, zwei durch und verbundene Hauptsätze durch ein Komma voneinander abzusetzen, wurde mir in diesen Tagen wieder einmal deutlich. Gerade hatte ich ein Buch von 1792 gelesen, das in einem jeden solchen Fall ein Komma enthielt. In einem umfänglichen Briefcorpus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das vor einem guten Dutzend Jahren erstmals getreu nach dem Originalmanuskript veröffentlicht wurde, sieht das ganz anders aus. Darin sind die Satzzeichen im allgemeinen weitaus sparsamer gesetzt, und so trifft man auf Sätze, bei denen Auge und Hirn beim ersten Anlauf unweigerlich ausrutschen. Zwei Kostproben: Die Herzogin soll mit ihrer Begleitung herumgehen und die Marktleute preisen ihr in Versen ihre Waaren an. Pastoren sind aber zu Allem fähig. Ihr Wandel ist im Himmel und auf Erden machen sie Mißgriffe.
Daß aber auch ein gesetztes Komma mitunter zu wenig sein kann, erweist sich an diesem Beispiel: Der Reichthum geht in die Hände der Wirthe und Fabrikanten, Staatsdiener und Handwerker hungern und die Arbeiter verhungern oder wandern aus.
Die besagten Briefe sind übrigens nach Ehstland gegangen. Das h, im 19. Jahrhundert noch verbreitet, ist später konfisziert worden. Dennoch liest und hört man, korrekt sei Estland mit langem E zu sprechen. Warum hat man das h überhaupt getilgt, wo diese Maßnahme zwangsläufig eine Angleichung der Aussprache an Rest, Fest, Nest nach sich ziehen mußte?
Doch noch ein Wort zum Buch von 1792. Die Orthographie ist recht konsequent; keineswegs geht es dort wie Kraut und Rüben durcheinander. Schwankungen treten bezeichnenderweise (?) bei adverbialen Verbindungen wie im voraus, zum Voraus auf. Bemerkenswert erscheint mir ferner der Umstand, daß es grundsätzlich demonstriren, celebriren usw. heißt, aber immer studieren, Studierende. Wie ist das zu erklären?
Zu guter Letzt: in beiden Werken findet sich nur sogenannt.
Eine allgemeine Erkenntnis drängt sich heute dem bewußten Leser auf: Eine Rechtschreibung, gerade wenn sie wie die deutsche über anderthalb Jahrhunderte, von Adelung bis Duden, reifen konnte, ist nicht nur eine Kulturnorm, wie Munske gesagt hat. Sie ist ein empfindlicher Biotop. Stirbt darin ein Baum oder Strauch nach einem ihm angemessenen Leben allmählich ab, so ist längst ein anderer nachgewachsen, und alles bleibt im Lot. Willkürliche Eingriffe an einer Stelle, erst recht an mehreren, bringen das ganze Gefüge nachhaltig aus dem Gleichgewicht. Bis sich ein solches wieder einstellt, wird es jetzt, so fürchte ich, einige Generationen dauern. Vermutlich sind wir wieder in Adelungs Zeiten zurückversetzt.
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Heinz Erich Stiene
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