Würg Faz
Das strukturalistische Mangoldtörtchen
Nach vierzig Jahren täglicher Lektüre hätte ich nicht damit gerechnet, daß die FAZ ins satirische Fach wechselt und einen „Jürgen Dollase“ erfindet, der nun jeden Samstag die Kolumne „Geschmackssache“ bestreitet – anstelle von „Natur und Wissenschaft“, womit man wohl den Leser am Wochenende nicht belasten zu dürfen meint.
Welcher FAZ-Leser interessiert sich dafür, was ein 29jähriger Schnösel von Küchenchef in einem Dorf bei Padua einmal aufgetischt hat? Zum Beispiel ein Risotto mit Süßwein, Kapern und Kaffee, der sich während des Essens als braune Pfütze in der Mitte des Tellers sammelt, von Dollase aber als „Kristallisationspunkt für grundsätzliche Überlegungen zu einer rückgekoppelten oder einer Art aleatorischen Kreativität“ verstanden wird. (FAZ 22.5.04)
Dazu gibt es aber ein Glas mit gewürzten Brotwürfeln, der – kalten – Creme einer speziellen Brokkoli-Sorte und Trüffelstückchen, was wie der unreflektierte Versuch wirkt, auch noch strukturalistische Momente durch Textur- und Temperaturvarianten zu installieren. (FAZ 22.5.04)
Wenn Goossens die Langustinen mit Kaviar und Kartoffelcreme kombiniert, ist dies zunächst nur eine eher klassische Basis, die in anderen Häusern sich selbst genug ist. Er aber erweitert die Creme durch ein Broccoli-Püree (...) (FAZ 13.3.2004)
Und was exakt ist beim „Filet vom australischen Wagyu-Rind mit Chinakohl und Ingwer in Burgunderjus“ (in drei Variationen) passiert? Bühner entfernt – äußerst subtil denkend die Bratkruste von einem Stück, um den reinen Geschmack dieses fettreichen und außergewöhnlich zarten Fleisches freizulegen, und kombiniert dünne gebratene Scheiben mit krossen Foie-gras-Croutons (was ein wunderbares Eß-Erlebnis ist) – überwürzt die Scheiben aber (mit Senf) und mariniert sehr dünn geschnittenes, rohes Fleisch mit einer alles übertünchenden Sojasauce. Kurzfristig muß da einmal die Sinn-Verankerung ausgesetzt haben. (...) Ein Rochen (...) präsentiert sich als strukturalistische Kreation (...) (FAZ 3.4.04)
Der Strukturalismus hat es Dollase angetan, wahrscheinlich erinnert er sich einschlägiger Lektüre („Das Rohe und das Gekochte“) und interpretiert die Speisekarte semiotisch:
Ähnlich wirkt auch sein Wolfsbarsch mit Blutwurst, Entenstopfleber und Lavendelvinaigrette oder – etwas strukturalistischer – ein Mangoldtörtchen mit Entenstopfleber auf einer Teigscheibe mit präzise dimensioniertem Speck zu Austern und einer Curry-Sauce. (FAZ 30.4.04)
Hier gibt sich der Autor allerdings eine Blöße, denn die postkoloniale „Curry-Sauce“ sogenannter Feinschmecker ist, auch wenn sie über Austern und Speck gegossen wird, grundsätzlich etwas Vulgäres. Seit sogenannte Weinkenner beim Genuß österreichischer Frostschutzmittel verzückt die Augen verdrehten, werden wir ja den Verdacht nicht also, daß die Feinschmeckerei viel mit Selbstbetrug zu tun hat oder – strukturalistischer ausgedrückt – ein selbstreferentielles Produkt sozialer Konstruktion von Wirklichkeiten ist.
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Th. Ickler
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