Peter Handke
Die Geschichte des Dragoljub Milanović
05.08.2011 | 15:30 | Von Peter Handke (Die Presse)
Der vergessene Gefangene oder: Der Fall des Serben Dragoljub Milanović, der nach einem absurden Gerichtsurteil seit bald zehn Jahren in einem Gefängnis nahe Belgrad sitzt.
Es ist hier eine Geschichte zu erzählen. Nur weiß ich nicht, wem. Mir scheint, es gebe keinen Adressaten für diese Geschichte, jedenfalls nicht in der Mehrzahl, und nicht einmal in der Einzahl. Mir ist auch, es sei zu spät, sie zu erzählen; der Zeitpunkt verpaßt. Und trotzdem ist es eine dringende Geschichte. Der Meister Eckhart spricht einmal von seinem Bedürfnis zu predigen, das so stark sei, daß er, fände er für seine Predigt kein Gegenüber, seine Predigt – wenn ich mich recht erinnere – notfalls auch an einen „Opferstock“ richten würde. Hier handelt es sich um keine Predigt, sondern, wie gesagt, um eine Geschichte. Aber auch die wäre notfalls einem Holzstoß oder einem leeren Schneckenhaus zu erzählen oder gar, wie im übrigen nicht zum ersten Male, mir hier ganz allein.
Es ist die Geschichte des Dragoljub Milanović, des ehemaligen Direktors von RTS (Radio-Televizija Srbije), dem serbischen Radio und Fernsehen. Seit neun Jahren ist er Häftling in einem Gefängnis seines eigenen Landes, wegen des nächtlichen Bombenbeschusses der Nato auf die TV-Anstalt am 23. April 1999, etwa vier Wochen nach Beginn des Krieges gegen den Staat, welcher damals noch „Bundesrepublik Jugoslawien“ hieß: 16 tote Angestellte des Senders, und ebensoviele Verletzte.
Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die für die Ereignisse des Krieges der „Nordatlantischen Verteidigungsorganisation“ gegen Jugoslawien – eines Krieges, der bei den unvermeidlichen Siegern, und inzwischen nicht nur bei diesen, sondern auch in der Terminologie der offiziellen westlichen Geschichtsschreibung, den Namen „Intervention im Kosovo“ trägt –, Dragoljub Milanović ist bis heute die einzige Person, die als Folge jener Intervention im Kosovo angeklagt, verurteilt (beides von der Staatsanwaltschaft und von einem Gericht seines eigenen, von den Westmächten besiegten Landes) und für fast zehn Jahre eingesperrt worden ist…
[weitergehende umfangreiche Texprobe]
[Peter Handke] Geboren 1942 in Griffen, Kärnten. Lebt in Chaville bei Paris. Büchner-Preis, Kafka-Preis, Großer Österreichischer Staatspreis etc. „Die Geschichte des Dragoljub Milanović“ – auf Wunsch des Autors in alter Rechtschreibung – erscheint in erweiterter Form Ende nächster Woche bei Jung und Jung, Salzburg.
(Die Presse, Print-Ausgabe, 06.08.2011)
Die Presse 6.8.2011
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