Manche sprechen von Parteiendiktatur
Deutsche Welle
Mehr Volksentscheide in Deutschland?
Immer mehr Bürger in Deutschland wollen nicht nur alle vier Jahre wählen, sondern aktiv in der Politik mitreden. Die Zahl der Volksentscheide nimmt zu. Zwar sind die Hürden dafür noch hoch, aber das soll sich ändern.
In der deutschen Verfassung steht eindeutig: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Dabei sieht die Wirklichkeit seit Jahrzehnten so aus, dass Vertreter von Parteien als Vertreter des Volkes in parlamentarischen Gremien entscheiden. Dafür stellen sie sich alle vier Jahre zur Wahl. Repräsentative Demokratie nennt sich das. Die Bürger wählen also diejenigen, die als Politiker alle Dinge regeln. Allerdings sind seit rund zwanzig Jahren immer mehr Bürger mit vielen Entscheidungen der Berufspolitiker nicht mehr zufrieden. Mit der Bemerkung dann sollen sie doch in eine Partei gehen und sich dort engagieren schien für manche Parteifunktionäre das Problem gelöst.
Manche sprechen von Parteien-Diktatur
Die Zeit für eine Mitarbeit in einer der Parteien haben die meisten Bürger aber nicht unbedingt, ihr Alltag ist oft auch so schon kompliziert genug. Zudem lehnen die meisten Bundesbürger nervige Parteirituale, Postenrangeleien und die oft langsamen Entscheidungsprozesse ab. In Umfragen zeigt sich die Mehrheit der Bürger gleichzeitig überwiegend einverstanden mit dem System der an Parteien übergebenen Macht auf Zeit. Aber immer dann, wenn ihrer Meinung nach etwas anzubrennen droht, möchten die Menschen doch lieber direkt mitbestimmen können. Die einzige Möglichkeit, in Deutschland politisch Einfluß zu nehmen, bieten neben den Wahlen zu Landesparlamenten und zum Bundestag die sogenannten Volksentscheide. Sie sind im Unterschied zu Wahlen jederzeit möglich.
Bürger wollen bei vielen Themen mitreden
Der Wunsch nach Volksentscheiden wird immer stärker. Von 1990 bis 2010 wurden mit 269 Verfahren zehn Mal soviele Volksentscheide angestrebt, wie in den vorangegangenen 43 Jahren.
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In früheren Volksentscheiden ging es um höchst unterschiedliche Fragen. Einige Beispiele: Soll es […] ? Soll es eine Rechtschreibreform geben? Sollen alle Krankenhäuser unserer Stadt wirklich privatisiert werden? Muß das Land die Kinderbetreuung ausbauen? Soll es ein Wahlpflichfach Religion an Schulen geben? […].
Angst der Politiker vor dem Volk unbegründet
Bei allen jemals beantragten Volksentscheiden in Deutschland ging es also weder um mehr Freibier, um totale Steuerbefreiung oder gar um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Weil der Volksentscheid rein rechtlich der Entscheidung eines Parlaments gleichgestellt ist, müssen sich alle Volksentscheide ohnehin am Rahmen des Grundgesetzes orientieren. Unter dieser Bedingung sind dann alle Themen erlaubt. Die Deutschen haben bewiesen, dass sie bisher mit dem Instrument Volksentscheid verantwortungsvoll umgegangen sind.
Umso verwunderlicher ist es, dass sich seit Gründung der Bundesrepublik jede Regierung und jeder gewählte Bundestag strikt geweigert hat, einen Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen. Alle Anträge dazu wurden abgelehnt, zuletzt 2010 ein entsprechender Antrag der Partei Die Linke.
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Hohe Hürden für Volkentscheide
Einen Volksentscheid können Bürger jederzeit beantragen, die Kosten trägt in vollem Umfang der Staat. Damit ein entsprechender Antrag anerkannt wird, ist eine Unterschriftensammlung nötig, an der sich je nach Bundesland mindestens vier bis zwanzig Prozent [!] aller Wahlberechtigten beteiligt haben. Diese Bedingungen sind zu hoch und müssen nach unten korrigiert werden, sagt Heiner Geißler, der nach langen Jahren als Politiker zuletzt im Verfahren um den Stuttgarter Hauptbahnhof zwischen den Parteien vermittelt hat. Tatsächlich scheitern unter den bisherigen Umständen neun von zehn Anträgen auf Bürgerbegehren, weil sich schon für den Antrag nicht genügend Unterstützer finden. Damit werden die meisten Wünsche nach einem Volksentscheid abgelehnt. Das Land Hessen ließ 1981 sogar einen Antrag auf Volksentscheid gerichtlich verbieten. Eine Volksbefragung zu einer zusätzlichen Startbahn am Frankfurter Flughafen sei unzulässig, hieß es einfach. Die Politik schottet sich bis heute ab.
[Die seinerzeitigen Kultusminister Holzapfel (SPD, Hessen) und Zehetmair (CSU, Bayern) vertraten auch die Unzulässigkeit des Volksentscheids zur Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein.]
Demokratie als Politik der Beauftragten
Setzt man sich mit den Argumenten auseinander, mit denen bisher bundesweite Volksentscheide abgelehnt werden, könnte der Eindruck entstehen, dass die meisten Parteien die ihnen übertragene Macht nur ungerne mit der Bevölkerung teilen wollen.
So argumentieren die Gegner bundesweit gültiger Volksentscheide zum Beispiel gerne, dass man in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht habe. Schließlich habe es ein Volksentscheid in der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre ermöglicht, dass Hitler an die Macht gekommen sei. Zwar haben Historiker dafür bis heute keinen Beleg gefunden, aber das Argument hält sich aus unerfindlichen Gründen überaus hartnäckig.
Ein weiteres Argument zur Abwehr von Forderungen nach bundesweiten Volksentscheiden lautet, die Bürger würden ja nur kurzsichtig und absolut eigennützig handeln. Handeln Parteien aber nicht auch eigennützig, fragen da die Befürworter eines bundesweiten Volksentscheids.
Das am häufigsten angebrachte Argument einer Ablehnung lautet allerdings: Die Bürger wissen einfach viel zu wenig über die komplexen Sachverhalte. Sie seien also unfähig, überhaupt komplizierte politische Entscheidungen zu treffen. Langjährige Beobachter des Alltags in deutschen Parlamenten und sogar Abgeordnete selbst müssen aber einräumen, dass auch Profi-Politiker oft selbst keine Ahnung haben. Deshalb haben Lobbyisten und Armeen von Politik-Beratern oft ein leichtes Spiel.
Die meisten Abgeordneten gucken einfach nur, welches Kärtchen der Geschäftsführer der Partei hochhält, und so wird dann eben mit Nein oder Ja abgestimmt, bestätigen Berlin-Korrespondenten. Der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow (SPD) bekennt sich in seinem Buch Wir Abnicker ganz offen zu einer derartigen Ohnmacht.
Abwehr wird scheitern
Die Aktionen gegen das Bahnhofsprojekt in Stuttgart haben gezeigt, wie sachkundig die Bürger heute sind […] Inzwischen befürworten Inhaber höchster Staatsämter einen bundesweiten Volksentscheid als selbstverständliches Instrument einer echten Demokratie.
Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog setzt sich ebenso dafür ein, wie Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts. Selbst der amtierende Präsident des höchsten deutschen Gerichts, Andreas Voßkuhle, sieht im Zuge der Entwickungen in Europa einen bundesweiten Volksentscheid als unumgänglich an. Und die Frage, ob Volksentscheide tatsächlich ein Land destabilisieren, den Fortschritt oder Entscheidungsprozesse bremsen könnten, haben Forscher an der Universität Heidelberg untersucht. Ihr Fazit: Nein!
Während CDU und FDP Volksentscheide generell kritisch sehen und weitgehend ablehnen, können sich SPD und Grüne vorstellen, mehr demokratische Elemente zuzulassen. […] Politik muss wieder mehr Akzeptanz finden. Neben mehr Transparenz dürften da umfangreichere Mitentscheidungsmöglichkeiten hilfreich sein.
Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Hartmut Lüning
Deutsche Welle 24.11.2011
Hervorhebungen und Kürzungen hinzugefügt.
NB: Die traditionelle Kulturrechtschreibung schlägt immer wieder durch
Das übelste Beispiel für Parteiendiktatur ist hier dokumentiert..
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