Reformschreibung und Reformkirche
Die „Rechtschreibreform“ verunsichert bekanntermaßen auch beim Lesen unreformierter Texte, weil man nicht mehr sicher sein kann, ob nicht der Schreiber oder das Korrekturprogramm versehentlich aufs falsche Gleis geraten sind. Reformdressierte Leser müssen ebenso auf die schiefe Bahn kommen.
So geschieht es bei dem gerade erwähnten Paulus-Buch von Hyam Maccoby. Der Satz auf Seite 72 kann reformiert in zwei Bedeutungen verstanden werden:
„Der Leichnam eines hingerichteten Verbrechers wurde eine kurze Zeit lang an einem Pfahl aufgehängt, aber dann sollte er abgenommen werden, denn das würde einen Fluch von Gott provozieren…“
Im weiteren Verlauf des Buches zeigt sich, daß der Übersetzer das ursprünglich von den Reformern gänzlich abgeschaffte Wort „Zeitlang“ sehr wohl kennt. Also ist der genannte Satz wohl auch traditionell zu verstehen. Sicher sein kann man aber heutzutage nie.
Eine kleine Abschweifung zum Inhalt des Buches sei noch erlaubt. Eine Frage hat es mir nicht beantwortet: Sind die „Armen“ im Galater-Brief 2,10 nicht vielleicht eine (Selbst-)Bezeichnung für die Jerusalemer Urgemeinde, die sich nach der Zerstörung Jerusalems für die judenchristliche Gruppe der „Ebioniten“ („ebionim“, die Armen) ununterbrochen fortsetzte? Beide Gruppen wurden auch „Nazarener“ genannt, wie noch heute im Arabischen die Christen („nazraniy“). Die Ebioniten zeigten urchristliche Züge, lehnten die Göttlichkeit Christi ab, betrachteten Paulus als Verräter und wurden daher von der paulinischen Kirche verfolgt.
Wer den Galater-Brief ohne christliche Scheuklappen liest, wie ich vor fünfzig Jahren, erkennt leicht, daß die Jerusalemer Urgemeinde unter Jakobus und Petrus (Kephas) den selbsternannten Apostel Paulus für einen fragwürdigen Phantasten hielt, den man von den Juden fernhalten müsse. Da man ihn aber in seinem Missionierungsdrang nicht hindern konnte, fand man die einträgliche Lösung, ihn gegen eine Lizenzgebühr unter den Heiden missionieren zu lassen, wie Paulus andeutet (n. Luther): „… erkandten die gnade / die mir gegeben war / Jacobus vnd Kephas vnd Johannes / die fur seulen angesehen waren / Gaben sie mir vnd Baraba die rechte Hand / vnd wurden mit vns eins / Das wir vnter die Heiden / sie aber vnter die Beschneitung predigeten / Allein das wir der Armen (πτωχων) gedechten / welches ich auch vleissig bin gewesen zu thun.“ (Gal. 2,9-10) Von der Geldübergabe wird an anderen Stellen berichtet.
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