Rechtschreibung und Logik
Unter dieser Überschrift schrieb Günter Schmickler am 25.09.2002 im VRS-Gästebuch (unveränderte Kopie):
Wenn wir die vor nunmehr sechs Jahren bekanntgemachte Rechtschreibreform ablehnen, begründen wir dies oftmals damit, daß viele der neuen Schreibweisen grammatisch falsch seien, z.B. Bankrott gehen oder gestern Abend. Dabei sollten wir aber nicht außer acht lassen, daß es gar nicht so selten auch in der herkömmlichen Orthographie Schreibungen gibt, die mit grammatischer Logik schwerlich zu vereinbaren sind. Wieso schreiben wir Gefahr laufen oder Wache stehen, obwohl doch ein intransitives Verb kein Akkusativobjekt regieren darf? Duden (Bd. 9, Zweifelsfälle, 1972) und Wahrig (Deutsches Wörterbuch, 1986) beantworten diese Frage auf grundverschiedene Art. Wahrig macht es sich sehr einfach, indem er die Klassifizierung der Verben laufen und stehen als intransitiv modifiziert. In einigen Ausnahmefällen (nur in bestimmten Wendungen) gelten diese Verben halt als transitiv. So genügt eine Begriffsdehnung, um die gestörte Logik wiederherzustellen. Ganz anders der Duden. In seiner Lesart handelt es sich z. B.bei Posten stehen um eine syntaktische Fügung, in welcher der ursprüngliche Charakter des substantivischen Satzglieds nicht mehr zu erkennen ist. Mit ursprünglichem Charakter ist ein Präpositionalobjekt, hier auf Posten gemeint. Fügungen dieser Art würden nicht in einem Wort (postenstehen) geschrieben, weil die Vorstellung des mit dem Substantiv verbundenen Dings noch voll vorhanden sei. Deutlicher können sich unterschiedliche Gewichtungen kaum bemerkbar machen: Vorrang der subjektiven Vorstellung bei Duden, objektive Regelhaftigkeit wenn auch mit einem bißchen Nachhilfe bei Wahrig. Unterschiedliche Auffassungen bei Duden und bei Wahrig gibt es auch zu Fügungen wie Er ist mir feind oder Sie sind mir freund. Nach Duden schreibt man feind klein, weil hier das Substantiv in stehender Verbindung mit einem Verb in verblaßter Bedeutung gebraucht wird. Wahrig hingegen klassifiziert feind als nur prädikativ gebrauchtes Adjektiv. Die Folgerung liegt auf der Hand: Lege ich die Dudensche Lesart zu Grunde,so wird mit der neuen Schreibweise Er ist mir Feind lediglich eine Ausnahme von der Grundregel, nach der Substantive groß zu schreiben sind, beseitigt. Nach Wahrig hingegen ist die neue Schreibweise grammatisch falsch. Mir scheint die Darstellung des Wahrig einleuchtender, da das kleingeschriebene feind die grammatischen Eigenschaften eines prädikativen Adjektivs hat: fehlender Plural und fehlende weibliche Form auf "-in; gegen die Klassifizierung als Substantiv sprechen auch die Verneinung durch nicht statt durch kein, ferner die Möglichkeit der Voranstellung von sehr und die Erweiterung spinnefeind. Schon aus diesen Beispielen wird deutlich, daß unklare Definition und unterschiedliche Interpretation grammatischer Grundbegriffe mitnichten Erfindungen der Rechtschreinreformer sind.
Bei den Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung fällt auf, daß sie großenteils auf Zirkelschlüssen (circuli vitiosi) basieren. Bei einem unfesten Kompositum weiß man nie, ob es sich bei dem ersten Bestandteil um einen Verbzusatz handelt, weil er mit dem Verb zusammengeschrieben wird, oder ob die beiden Bestandteile zusammengeschrieben werden, weil der erstere ein Verbzusatz ist. Von Professor Ickler erfuhr ich, daß schon vor 70 Jahren der Germanist Erich Drach auf dieses Grundübel hingewiesen hat. Lese ich heute in den Regeln zur GZS, so werde ich nicht selten an Onkel Bräsig erinnert, eine Romanfigur Fritz Reuters, die er die zum geflügelten Wort gewordene Weisheit aussprechen ließ: Die große Armut in den Städten kommt von der großen Powerteh her. Außer der fehlenden Eindeutigkeit einiger grammatischer Grundbegriffe sind die logischen Mängel der herkömmlichen Orthographie großenteils auch dadurch begründet, daß die Regeln aus dem tatsächlichen Schreibgebrauch hergeleitet wurden (usus tyrannus). Tyrannen neigen bekanntlich mitunter zur Willkür. Hin und wieder kokettiere ich mit dem Gedanken, ob es zweckmäßig wäre, in einer überschaubaren Zahl von krassen Einzelfällen das Gebot des Tyrannen zu übertreten und der Logik ein bißchen auf die Sprünge zu helfen. Dabei müßten in jedem Fall die der deutsche Sprache innewohnenden Entwicklungstendenzen der Univerbierung und der Desubstantivierung respektiert werden.
Der Versuch der Rechtschreibreformer,die Zahl der mehr oder minder willkürlichen Einzelfestlegungen durch logische Regeln zu beschränken, ist kläglich gescheitert. Wenn in der Fügung Es tut mir leid das Adverb leid zum Substantiv erklärt wird, hat das mit Logik herzlich wenig zu tun. Mir kommt das vor, als verliehe ein Mathematikprofessor der Zahl sechs die Eigenschaft einer Primzahl.
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