Heinrich von Kleist
Sämtliche Werke und Briefe Bd. 1-3
Münchner Ausgabe – herausgegeben von Roland Reuß, Peter Staengle
Erscheinungsdatum: 16.08.2010
Fester Einband, Seiten
Mit Abbildungen in Band II
Lesebändchen
Preis: 128.00 € (D) / 179.00 sFR (CH) / 131.60 € (A)
ISBN 978-3-446-23600-4
Hanser Verlag
Aus dem Interview mit Roland Reuß [bei kultiversum.de]
2011 jährt sich Heinrich von Kleists Selbsmord zum 200. Mal. Ein Gespräch mit Roland Reuß, Mitherausgeber der «Münchner Ausgabe» des Kleistschen Gesamtwerks, die im Herbst 2010 im Carl Hanser-Verlag erschienen ist.
Herr Reuß, warum eine neue Kleist-Ausgabe?
Die Leseausgaben, die vorher auf dem Markt waren, waren zwar auch für ein breiteres Publikum erschwinglich, hatten aber ein wesentliches Handicap. Sie enthielten nämlich nicht den Text wie er von Kleist selber zum Druck befördert worden oder in Handschriften niedergelegt worden war. Stattdessen haben die Herausgeber immer wieder versucht, dem Text aufzuhelfen, indem sie ihn eingerichtet haben – jeweils nach der neuen Rechtschreibung und nach den Vorstellungen, die man von Kleist hatte.
Auf der anderen Seite gab es unsere historisch-kritische «Brandenburger Ausgabe», ein 20bändiges Werk, an dem wir seit Ende der 80er Jahre gearbeitet haben. Die «Brandenburger Ausgabe» enthält tatsächlich jede Kleinigkeit, die Kleist je geschrieben hat. Als wissenschaftliche Edition, die auch die gesamten Quellen komplett dokumentiert und insgesamt fast 9000 Seiten hat, ist sie für das breite Lesepublikum allerdings nicht geeignet.
Die «Münchner Ausgabe» versucht jetzt, beide Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wir haben keine unausgewiesenen Eingriffe in die Texte, wir haben auch die Kleistsche Orthografie beibehalten. Wir haben nichts geglättet, wir haben alles, was handschriftlich überliefert ist, nicht als Häppchen dargeboten, sondern vollständig. Gegenüber den vorhergehenden Leseausgaben haben Sie also wirklich alles, was Kleist geschrieben hat, bis ins letzte Komma dokumentiert in dieser Ausgabe.
[…]
Was offenbart Ihre Edition denn Neues über den Dramatiker Kleist?
Der Dramatiker Kleist hat sehr häufig unvollständige Verse gedichtet. Da fehlt zum Beispiel ein Jambus, manchmal hat ein Vers nur ein Wort. Das verstört den «klassizistischen Leser», der auf Regularität programmiert ist. Um dieser Verstörung vorzugreifen, hat zum Beispiel Helmut Sembdner, der die alte «Münchner Ausgabe» beim Hanser Verlag ediert hat, den Versen eben immer wieder, wie man damals sagte, ‹aufgeholfen›. Das heißt, er hat dazugedichtet, meistens Füllsel-Wörter wie «Ei» oder «Ha» oder «Potz».
Allein im «Zerbrochnen Krug» sind das etwa 400 Verse, die so behandelt worden sind. Dadurch entsteht eine Mischung aus Originaltext, Editorfantasie und klassizistischer Vorstellung von dem, was die «Verssprache bei Kleist» sei.
[...]
Können Sie Ihre Klassizitäts-Erfahrung an einem Kleist-Text beschreiben?
In der zehnten Klasse haben wir den «Kohlhaas» gelesen, und uns wurde gesagt: das handelt davon, dass alles, was Auflehnung, Widerstand gegen die Staatsgewalt bedeutet, zwar etwas Verständliches ist, aber am Ende zu etwas ganz Schlechtem führt. Ich habe mich damals gefragt, warum Kleist sich am Ende das Leben genommen hat, wenn das eigentlich alles so gut aufgegangen ist.
Nach fünf, sechs Jahren habe ich den Text wieder gelesen und habe auf einmal ganz andere Sachen wahrgenommen. Etwa die Zigeunerin, …
Viele Texte lesen wir nicht ein zweites Mal, weil sie dann nichts mehr zu sagen haben. Ein Klassiker muss einem bei jedem Lesen etwas Neues sagen, und insofern ist Kleist meiner Meinung nach ein Klassiker par excellence
kultiversum.de 17.12.2010
NB: Zum Reformbetrug mit „Kohlhaas“ siehe auch hier
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