Bundestagspräsident Norbert Lammert ...
... sinniert mit Blick auf die Inschrift am Berliner Reichstag, was das deutsche Volk sei und wie es regieren oder regiert werden sollte (faz.net 4.1.2017). Dabei erwähnt er auch die verfassungsfeindliche Alternativinschrift: Die Inschrift „Dem deutschen Volke“ wirft die Frage nach unserem Souveränitätsverständnis auf. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“, besagt Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz und benennt damit den grundstürzenden Unterschied zum monarchischen Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts. Nach dem formalen Volksbegriff des Grundgesetzes entscheidet die Staatsangehörigkeit darüber, wer zum Souverän gehört und wer nicht. Die Betroffenheit ist kein hinreichendes Kriterium – anders als es der im Jahr 2000 im nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes plazierte und mit wiederum demonstrativer Geste als Gegenfolie zum Giebelfries dienende Schriftzug „Der Bevölkerung“ des Künstlers Hans Haacke suggeriert. Im Laufe des Textes wird deutlich: Lammert stellt über das Volk, den „Souverän“ des Grundgesetzes, die Volksvertreter und ihre Regierung, die sich kraft ihrer höheren Weisheit auch über den Willen des Volkes hinwegsetzen dürfen – in einer Art Gottesgnadentum. Als „Demokratie“ genügt dann die vierjährige Anerkennung dieses Zustandes und die Befindlichkeitsanzeige per Stimm„abgabe“: Der langjährige Verfassungsrichter Dieter Grimm hat bei einem Kolloquium, das der Bundestag aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Giebelinschrift im November ausrichtete, betont, dass sich die Volkssouveränität insbesondere in der Setzung einer Verfassung ausdrücke – und sich damit im Wesentlichen erledigt habe. Fast zeitgleich unterstrich auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung, dass aus dem Volk als Träger der Staatsgewalt nicht folge, es sei jegliches staatliche Handeln unmittelbar vom Volk selbst vorzunehmen. Das Repräsentationsprinzip ist nicht Ersatz für das Prinzip der Volkssouveränität, sondern sein wesentlicher, wirklichkeitsgerechter Ausdruck. In Wirklichkeit haben die Abgeordneten und Regierenden nur als Diener des Volkes die komplizierten Alltagsgeschäfte des Regierens zu lösen. Die Richtung hat das Volk vorzugeben. Das gelingt aber kaum durch die Wahlen, denn die Komplettpakete der Parteiprogramme und die bunten Wundertüten der Wahlversprechen lassen keine differenzierte Auswahl zu. Nur Volksentscheide können korrigierend in die Ausführung eingreifen. Lammert warnt jedoch vor Volksentscheiden. Die gut funktionierende direkte Demokratie in der Schweiz verschweigt er: Für Volksentscheide aber kann niemand verantwortlich gemacht werden – und das wiegt umso schwerer, als solche Entscheidungen, auch wenn sie falsch erscheinen, nur schwer oder gar nicht zu verändern sind. Tatsächlich ist nachweisbar, daß Volksabstimmungen meist die richtigeren Entscheidungen getroffen hätten, sei es in der Ablehnung des Euro, der Eurorettung, der Massenzuwanderung, der Islamisierung, der Öffnung der Grenzen und in der Ablehnung der Rechtschreib„reform“. Letztere hatte Lammert sogar selbst kritisiert, sich dann aber ohne Not der Parteidisziplin unterworfen. Dagegen hat Lammerts CDU mitgewirkt, die richtige und repräsentative Entscheidung des Volkes in Schleswig-Holstein gegen die Rechtschreib„reform“ dreist zu annullieren – aus Rechthaberei, Gesichtswahrung, Bequemlichkeit, Lobyistenabhängigkeit und verblendeter Ideologie.
Hinderlich ist auch die Befolgung einer anderen Empfehlung Lammerts:Politiker und Parteien dürfen nicht wankelmütig sein, wohl aber ihre eigenen Abwägungen und Zweifel öffentlich machen, denn auch das gehört zur Glaubwürdigkeit. Der niedersächsische Kultusminister Wernstedt hatte seinerzeit, unbeeindruckt von jedem Zweifel, propagiert: „Wenn man einmal einen Weg eingeschlagen hat, muß man ihn auch zu Ende gehen, auch wenn man zwischendurch festgestellt hat, daß er falsch ist.“ (27. 6. 1997). Die Kultusministerin Johanna Wanka konnte nur noch den Vollzug melden: „Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ (2.1.2006)
Lammert wäre nicht ein typischer Vertreter der Altparteien, würde er nicht vor neuen Parteien warnen, die sich aus Anlaß des Staatsversagens demokratisch gebildet haben: Populisten wollen „das Volk“ gegen Abgeordnete ausspielen
Das Prinzip demokratischer Repräsentation ist aber längst nicht mehr unangefochten. Ihrer antielitären und antipluralistischen Haltung folgend, versuchen Populisten, „das Volk“ gegen seine gewählten Vertreter auszuspielen: „wir“ gegen „die da oben“ – verbunden mit der gedanklich ebenso schlichten wie anmaßenden Überzeugung, für das Volk zu sprechen, und unter konsequenter Missachtung der Tatsache, dass auch gewählte Repräsentanten eben genau diesem Volk angehören. Welch eine Banalität! Inzwischen ist auch das in Frage gestellt, denn zunehmend werden Vertreter eingeschleust, die die Interessen fremder Völker und Ideologien verfolgen – eine Falsifikation der Lammertschen These: „Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt.“ Nachdem das deutsche Volk durch Versagen der Politiker balkanisiert und gespalten , mithin vorderorientalisch demokratieunfähiger wird, sieht Lammert das Heil im Gottesgnadentum der „Volks“vertreter und möchte den Begriff „Volk“ nun neu definieren. Wer dem nicht folgen will, ist Populist. Populismus ist ein Phänomen, das die allgemeingültige Definition scheut wie der Propagandist das sachliche Argument. Das Thema verlangt offenkundig nach Differenzierung. Aber auch Lammert ist zu der von ihm angestrebten allgemeingültigen Definition nicht fähig :Deutschland ist heute anders als vor hundert Jahren – glücklicherweise. Deutschland verändert sich, weil sich nicht nur die Welt und unsere Nachbarschaft verändern, sondern auch das Volk in Deutschland. Hier leben heute 17 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln – fast 20 Prozent unserer Bevölkerung. Die Realität einer vielgestaltigen Gesellschaft gibt der Frage nach Identität eine gänzlich neue Wendung. Lammert scheut die exakte Definition: Es verändert „sich“ nicht das Volk, sondern es wird verändert. 1982 wollte Helmut Kohl noch die Hälfte der damals 1,5 Millionen Türken nach Hause schicken. 2015 hat Angela Merkel allein wohl 1,5 Millionen obskurer Herkunft ins Land gelassen. Sollen sie und die noch Kommenden alle „integriert“ werden?
Zum Schluß gibt Lammert eine Durchhalte-Empfehlung, die besonders geeignet ist für Politiker, die versagt haben – wieder, ohne das „Volk“ definiert oder gefragt zu haben: Eine Politik, die vom Volke legitimiert und dem Volke gewidmet ist, bleibt eine ständig neue Herausforderung – mit vorläufigen Lösungen; sie gelten, wenn und weil sie demokratisch zustande kommen und nur so lange, bis andere demokratisch ermittelte Mehrheiten im Rahmen der Verfassung anderes beschließen.
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