Auch „Spiegel“ verschweigt den Volksentscheid S-H, ...
... erwähnt ihn nur unter einem Foto und täuscht über den Dolchstoß gegen den Widerstand im eigenen Hause hinweg. Rechtschreibreform 1998
Dann schreib doch, wie du willst
Als vor 20 Jahren die Rechtschreibung umgepflügt wurde, wehrten sich Eltern und Lehrer, Schriftsteller und Journalisten. Ein regelrechter Kulturkampf viele pfiffen in zivilem Ungehorsam auf den Neuschrieb.
Von Norbert F. Pötzl [bis 2013 Spiegel-Redakteur]
[Bild: Verkehrsschild mit Aufschrift „Reisverschluss“] Fotos
Mittwoch, 01.08.2018 15:58 Uhr
Die Empörung war enorm, der Widerstand ebenso. Profis wie Laien forderten, eine von oben herab verordnete Reform zu stoppen, die sie für so absurd wie unnötig hielten. Eine Bewegung wie ein paar Jahre zuvor gegen die Volkszählung machte gegen neue Rechtschreibregeln mobil. Meinungsumfragen ergaben stets breite Mehrheiten dagegen. Eltern, Lehrer und Schüler liefen Sturm, einige zogen sogar vor Verwaltungsgerichte, die teils für, teils gegen die Kläger entschieden.
Mehr als 100 deutsche Intellektuelle verurteilten die geplanten Schreib-Vorschriften in einer Frankfurter Erklärung zur Buchmesse 1996. Diesem Amtsfetisch einiger Sesselfurzer sollten sich die Schriftsteller nicht beugen müssen, wetterte Hans Magnus Enzensberger. Günter Grass verfügte, dass seine Werke auch künftig nach traditionellen Regeln gedruckt werden. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nannte den Neuschrieb unzweifelhaft eine Katastrophe.
Letztlich half alles nichts. Am 1. August 1998 wurde die neue Rechtschreibung für Schulen und Amtsstuben verbindlich. Das Bundesverfassungsgericht ebnete kurz zuvor den Weg, indem es eine Verfassungsbeschwerde Lübecker Eltern zurückwies: Für die neue Rechtschreibung sei kein Gesetz vonnöten, es genüge ein kultusministerieller Erlass.
Die Spracheiferer der Nazizeit
Damit war der Kulturkampf aber noch keineswegs beendet. Im Gegenteil: Jetzt ging es erst richtig los. Und selten fanden Profi-Sprachforscher wie auch Hobby-Besserwisser so viel Aufmerksamkeit wie in dieser langen Debatte, die noch deutlich hitziger verlief als etwa der Streit um die Einführung der Mengenlehre oder des Sexualkundeunterrichts in den Siebzigerjahren.
Erste Reformpläne gab es, genau genommen, schon 1944. Mitten im Krieg wollte Bernhard Rust, nationalsozialistischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, etliche Änderungen an der seit 1901 gültigen Orthografie durchsetzen; sie basierte auf dem Vollständigen Wörterbuch der deutschen Sprache, das der Gymnasiallehrer Konrad Duden 1880 veröffentlicht hatte.
Rust ließ eine Liste von teils rigorosen Vorschlägen erstellen:
• Großbuchstaben sollte es nur noch bei Eigennamen und am Satzanfang geben.
• Fremdwörter sollten generell eingedeutscht werden wie zum Beispiel fosfor oder schofför.
• Dehnungsbuchstaben sollten entfallen das bot, der kan, di libe.
• Ein f sollte generell das v ersetzen das fi, der frefel.
• Statt ai sollte es nur noch ei geben keiser.
Hitler stoppte das Vorhaben, weil eine Rechtschreibreform alles andere als kriegswichtig sei.
Später nahmen Reformer, etliche dieselben wie einst im Dritten Reich, einen neuen Anlauf. 1954 übergaben Sachverständige einer Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege den westdeutschen Kultusministern einen Katalog an Empfehlungen, die bis auf wenige Retuschen denen von NS-Minister Rust glichen.
1980 wurde ein Internationaler Arbeitskreis für Rechtschreibreform von Germanisten aus der Bundesrepublik, der DDR, der Schweiz und Österreich gegründet und trieb die Bemühungen wieder voran. Sieben Jahre später beauftragte die Kultusministerkonferenz das Institut für deutsche Sprache in Mannheim, ein neues Regelwerk zu entwerfen. Die Öffentlichkeit quittierte die 1988 vorgelegten Vorschläge mit Hohn man feixte vor allem über den Keiser im Bot. Freilich war nur wenigen bewusst, dass eben solche radikalen Änderungen schon linguistische Eiferer der Nazizeit angestrebt hatten. Was wurde nicht gegen den Althistoriker Prof. Christian Meier gegiftet, als er es wagte, die Wurzeln der „Reform“ in der Nazizeit zu verorten! – Das folgende Bekannte ist einigermaßen objektiv beschrieben, mit einer „kleinen Ungenauigkeit“:Im Jahr 2000 kehrte die FAZ zur bewährten Rechtschreibung zurück. Im August 2004 schlossen sich der SPIEGEL [nur verbal, denn Stefan Austs Vorhaben wurde vom Spiegelkollektiv boykottiert!] und die Zeitungen des Axel-Springer-Verlags dem Akt des zivilen Ungehorsams (so der damalige SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust) an: Die Reform sei eine zwangsneurotische Bürokratenlösung.
[...]
... um die Reform zu retten, wurde 2004 der Rat für deutsche Rechtschreibung gegründet. Vorsitzender war der langjährige Kultus- und Wissenschaftsminister Zehetmair, der an der Reform mitgewirkt hatte und nun mit seinen Kollegen Korrekturen vornahm. Von den rund 10.000 reformierten Duden-Einträgen, rechnete der Erlanger Germanistikprofessor und Reformgegner Theodor Ickler nach, wurden etwa 4000 nochmals geändert.
Der SPIEGEL folge den bisherigen Ergebnissen der Zehetmair-Kommission, insbesondere den Änderungen in der Getrennt- und Zusammenschreibung, verkündete Chefredakteur Aust. Sie sind eine Rückkehr zur Vernunft.
Ex-Minister Zehetmair zeigte sich überraschend reumütig. In einem Interview bekannte er 2003: Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen sollen.
spiegel.de 1.8.2018 In Schleswig-Holstein gelang der Volksentscheid gegen die „Reform“, weil er zusammen mit der Bundestagswahl stattfand und er von allen Hürden der Bundesländer eine der niedrigsten zu überwinden hatte – im Gegensatz zu Niedersachsen, wo sie höher waren und der Erfolg durch die perfide Nichtanerkennung von 100000 Unterschriften endgültig torpediert wurde. Dennoch wurden die Hürden in Schleswig-Holstein mit der Verfassungsreform noch einmal gesenkt, weil anders das Volk kaum an Volksentscheide käme.
1998 sammelte die Bürgerinitiative „WIR gegen die Rechtschreibreform“ im Volksbegehren die in Schleswig-Holstein nötigen 110000 Unterschriften zur Einleitung eines Volksentscheids. Sie gewann damals die Zustimmung von 885511 Bürgern oder 56,4 Prozent der gültigen Stimmen für ihr Gesetz zur Abwehr der Schreibreform-Indoktrination an den Schulen. Dies wurde allerdings nach nur einem Jahr durch die dummdreisten Parlamentarier annulliert. Trotzdem schlug den Übeltätern wohl das Gewissen, denn sie bestimmten kurze Zeit nach diesem Schurkenstreich, daß Volksentscheide künftig erst nach zwei Jahren angegriffen werden dürften.
In der neuen Verfassung von 2014 wurde dann das Quorum für ein Volksbegehren auf 80000 Unterschriften und die erforderliche Mindestzustimmung von 25 Prozent der Wahlberechtigten auf 15 Prozent gesenkt. (Daran kann man ermessen, wie demokratiefeindlich die Hürden in den Ländern der gescheiterten Volksbegehren wie Niedersachen, Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern waren und teilweise noch sind.)
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