Re: Schweizer Regierung zur ZGS
Zitat: Die Parlamentarierin ... werde ich noch fragen, wo sie das Mehr an Systematik [der neuen] und die Unzulänglichkeiten der alten Rechtschreibung sieht.
Sie hat mir inzwischen äußerst zuvorkommend geantwortet. Das Mehr an Systematik der neuen und die Unzulänglichkeiten der alten Rechtschreibung wurden offensichtlich vom Experten, an den sie sich als Nichtspezialistin gewandt habe, redigiert. Sie selbst kann sich darüber kein genaues Bild machen, ist aber für Hinweise dankbar. Ich habe ihr folgendermaßen geantwortet:
Sehr geehrte Frau Riklin
Herzlichen Dank für Ihre freundliche Antwort.
Sie können davon ausgehen, daß die Rechtschreibreform in den andern Bereichen genauso mißraten ist wie in der Zusammen-/Getrenntschreibung.
Das Mehr an Systematik, das Ihnen in Ihrem Postulatstext vermutlich der von mir sehr geschätzte Herr Hauck untergejubelt hat (der anschließend ja auch die Antwort des Bundesrates redigiert hat...), gibt es nicht oder jedenfalls nach den zahlreichen Revisionen nicht mehr. Und die Systematik, die es gab und noch gibt, ist verfehlt, weil nicht am Sprachgebrauch orientiert.
Dies ist eine Reform, die von allen Seiten von Anfang an großmehrheitlich abgelehnt worden ist: von den Laien (alle Umfragen, z.B. von Allensbach, belegen es), von den Experten (600 Professoren der Sprach- und Literaturwissenschaft unterzeichneten Aufrufe zur Rücknahme) und von den professionellen Anwendern (die bekanntesten Schriftsteller weigern sich, in neuer Orthographie zu schreiben). Man steht fassungslos vor der Tatsache, daß die Reform trotzdem durchgepaukt werden soll, weil eine Rücknahme angeblich politisch nicht durchsetzbar sei.
Kommt dazu, daß die Reform ihre Ziele (weniger und einfachere Regeln, Reduzierung der Fehler bei den Schreibenden, Bewahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung) nicht nur nicht erreicht, sondern sich von ihnen weit entfernt hat: Statt einfacher sind die Regeln noch vermehrt nach all den Revisionen zahlreicher, komplizierter und widersprüchlicher geworden, die Schreibenden machen dadurch statt weniger nachweislich mehr Fehler (v.a. durch Übergeneralisierungen), das Lesen wird erschwert, und die Einheitlichkeit der Rechtschreibung ist wegen der mangelnden Akzeptanz der neuen Regeln statt bewahrt verloren! Spektakulärer kann man gar nicht scheitern, und in der Privatindustrie würde dies den sofortigen Abbruch der Übung bewirken! Hier aber soll sie verbissen durchgezogen werden!
Die Reform konnte gar nicht anders als scheitern: Sie definierte erst die neuen Regeln auf dem Reißbrett (sie schreckt dabei nicht einmal vor grammatisch Falschem wie Leid tun zurück) und erstellte danach das Wörterverzeichnis. Orthographie funktioniert aber umgekehrt: Aus der Beobachtung des Sprachgebrauchs wird das Wörterverzeichnis erstellt, und aus der üblichen Schreibweise der Wörter versucht man danach Regelmäßigkeiten zu erkennen und in Regeln zu fassen. Daß diese Regeln nicht umfassend logisch sein können, liegt in der Natur der Sache, Beispiel: man kann nicht regeln, alle Fremdwörter mit ph entweder mit f oder mit ph zu schreiben: Telefon kann man nicht (mehr) mit ph vorschreiben, Philosophie (noch) nicht mit f. Es verhält sich wie in andern Gesetzen: sie müssen behutsam der Werteveränderung der Gesellschaft folgen (vor noch nicht allzu langer Zeit war das Konkubinat noch verboten heute undenkbar...).
Die Bürgerlichen haben nicht verstanden, daß die Reform ein Kind der linken Systemveränderer und Ideologen ist, die in der Rechtschreibung eine Barriere für den Zugang zur höheren Bildung sozial Schwächerer vermuten und denen das private Monopol des Dudens ein Dorn im Auge war.
Die Linken haben nicht begriffen, daß die Reform reaktionär ist (gegen die Sprachentwicklung gerichtet, z.B. gegen die Tendenz zur Zusammenschreibung) und antiquiert (Schreibweisen des vorigen und vorvorigen Jahrhunderts werden wiederbelebt: zu Eigen machen!). Sie glauben deshalb noch immer, die Reform sei ein linkes Projekt. Offensichtlich verwirrt sie nicht einmal die Tatsache, daß Elfriede Jelinek eine der glühendsten Kritikerinnen der Reform ist.
Die Lösung kann eigentlich nur die Rücknahme der Reform sein. Dabei sollten allerdings die Regeln liberaler gedeutet werden (wie im berüchtigten Beispiel radfahren: selbstverständlich sollte auch Rad fahren erlaubt sein). Und wenn politisch nötig, dann halt einige Zugeständnisse, z.B. vonseiten, aufseiten und bitte auch zurzeit, das in der Schweiz ohnehin zusammengeschrieben wird.
Notfalls sollte die Schweiz eigentlich auch vor einem Alleingang nicht zurückschrecken: Wir haben ihn ja bereits, wir haben das Eszett abgeschafft und werden, obwohl von der alten und neuen Rechtschreibung vorgeschrieben, niemals Bieler See schreiben.
Freundliche Grüße
Peter Müller
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Peter Müller
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